Solange die Nachtigall singt
zu tun, dass ich diesen Pilz gegessen habe. Das Kind ist da. «
Sie öffnete die Augen und legte die Hand auf seine. »Du bist wütend.«
»Nein.« Eine Lüge natürlich. »Ich will wissen, was hier geschieht! Warum sind die Türen verschlossen? Die Schlüssel lagen im Apothekerschrank, aber ich habe das Gefühl, dass sie schon jetzt nicht mehr dort liegen.«
»Doch«, sagte Jascha. »Das tun sie. Du kannst dir alle Räume ansehen. Es gibt kein Geheimnis in ihnen. Ich schließe ab, weil der Fuchs gelernt hat, auf die Klinken zu springen.«
»Wie?«
»Der Fuchs. Du bist ihm schon begegnet. Er ist jung und neugierig, wie du. Er bringt mir die Stoffe durcheinander. Einmal hat er sich in einem Ballen Wolle eine Höhle gebaut.«
»Ist er wirklich zahm? Wo … wo ist er jetzt?«
»Er schläft.« Sie lächelte. »In meinem Bett. Er ist wie eine Katze.«
»Und wo … ist dein Bett?«
Sie sah ihn von der Seite an, sah unter ihren Wimpern hervor wie aus einem Versteck heraus, Schalk in den Mundwinkeln. »Das wüsstest du gerne, ja? Aber du bist mir zu gefährlich, Zeisig.« Sie schmierte Marmelade auf ein Brötchen und leckte einen Klecks von ihrem Finger. »Vielleicht wirst du unberechenbar, wenn du noch einem Fliegenpilz begegnest. Man weiß nie.«
Er atmete tief ein und sagte nichts. Trank Kaffee. Aß ein Brötchen. Manchmal hasste er sie.
»Auf welchem Acker werde ich heute den Gaul spielen?«
Sie lachte. »Heute wird nicht gearbeitet. Heute ist Sonntag. Hast du die Glocken in den Bäumen nicht gehört, die dich zum Gottesdienst in den Wald rufen? Man muss auf die Wochentage achten hier draußen, damit einem die Zeit nicht entkommt. Sonst ertrinkt man in dieser grünen Welt.«
»Was wirst du tun?«
Sie tauchte ihren Finger in das Glas mit der roten Marmelade und zeichnete eine geschwungene, sich windende Linie auf ihren Teller, eine Ranke, ein Ornament.
»Ich werde malen. Sonntags male ich.«
Er half ihr, das Geschirr in die Küche zu tragen. Doch als er dort ankam, war Jascha nicht mehr da. Nur der Fuchs lag auf der Küchenbank und sah wieder aus, als wäre er ausgestopft. Der Fuchs, dachte Jari. Was hatte Jascha gesagt? Du bist ihm schon begegnet.
Woher wusste sie, dass er dem Fuchs schon begegnet war?
Und – hatte sie auf die Frage nach dem Kind geantwortet?
Er wusch das Geschirr ab, um nützlich zu sein. Womöglich auch, um eine Ausrede zu haben, in die Schränke zu sehen. Aber er fand nichts, was ihm weiterhalf. Er fand nur Geschirr und Besteck, Dosen mit Mehl und Zucker, getrocknete Pilze in einer Schale. Getrocknete Pilze? Sie waren nicht rot, doch womöglich waren sie es einmal gewesen. Plötzlich fragte er sich, was er in den letzten Tagen gegessen hatte. Welche Zutaten Jascha beim Kochen verwendete. Ob einige der Pilze den Weg in seinen Körper schon vor dem gestrigen Tag gefunden hatten und ob sich die Zeit deshalb so merkwürdig verhielt. Vielleicht wäre es gut, diese Schale irgendwo draußen auszukippen. Doch dann stellte er sie zurück.
Die Zweige in der Vase am Fenster ließen ihre Blätter hängen. Er warf sie fort und schnitt vor dem Haus neue Zweige, Zweige mit frischen, glutroten Blättern und goldenen Beeren. Als er sie in die Vase stellte, fühlte er sich besser. Hier durfte nichts verwelken, nichts absterben, nichts hässlich werden. Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Seit wann kümmerte es ihn, ob in einer Vase frische Zweige standen?
Vor der Hintertür warteten die kniehohen grünen Lederstiefel. Er zog sie an. Ja, er würde die hohen Hallen der gewachsenen Kirche besuchen. Und wenn er Glück hatte, würde er darin etwas finden, was ihm weiterhalf. Eine Antwort auf seine Fragen.
»Die wichtigste Frage von allen«, sagte er laut, als er in den Wald eintauchte, »ist die: Warum hat sie mich hergeholt? Oder lautet die Frage anders? Lautet sie: Warum bin ich mit ihr gegangen?« Bisher hatte er gedacht, die Antwort wäre einfach. Drei Buchstaben, der letzte ein x. Aber so einfach war es nicht.
Jari wanderte lange durch das blätterdurchwirkte Kirchenschiff, dessen biegsame Säulen mit der Bronzefarbe des Herbstes gestrichen waren, und lauschte der Orgelmusik, die der Wind auf den Ästen und Blättern spielte. Der Wind hatte seit dem Morgen zugenommen; es war eine gewaltige rauschende Musik, die er spielte.
Und dann, irgendwann, hörte er eine neue Art von Tönen in der Orgelmusik des Waldes: ein geheimes Lied, Töne, die nicht auf dem Instrument der Zweige gespielt
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