Solange die Nachtigall singt
eines Sees – das Gras einer Lichtung – Lippen – rote Scheiben, innen glasig weiß.
»Was immer du tust, ich hoffe, du hast eine gute Zeit. Denk daran, dass sie nicht ewig dauert«, sagte sein Vater. »Melde dich, wenn du wieder nüchtern bist. Ruf deine Mutter an. Heute Abend – oder morgen früh. Sie träumt von Wölfen und Bären, seitdem du fort bist.«
»Und du?«, fragte Jari. »Wovon träumst du?«
»Von Schrauben und Kanthölzern, wie immer«, erwiderte sein Vater nüchtern und legte auf.
Jari schaltete das Handy wieder aus, steckte es ein und ging weiter. Er musste doch betrunken sein, denn seine Schritte, die ihm eben noch so kraftvoll vorgekommen waren, schienen ihm jetzt etwas unstet.
»Schau«, sagte Jascha und bückte sich. »Schau, wir haben einen Hasen.«
Er fuhr herum. »Seit wann gehst du neben mir her?«
»Schon eine ganze Weile. Ich kann dich doch nicht wieder in die Irre laufen lassen. Der Nebel ist zu dicht.«
Sie nahm seine Hand, und in dem Moment, als sie ihn berührte, erinnerte er sich. Er war nicht betrunken. Er war nur dumm genug gewesen, die Hälfte eines ziemlich stattlichen Fliegenpilzes zu essen.
»Jascha … warum haben wir das getan?«
»Ich dachte, wir haben nichts getan.«
»Doch. Wir haben den Pilz gegessen. Wir sind geflogen. Wir haben uns vor der Bärin versteckt und … haben wir uns nicht geküsst?«
»Komm, mein Zeisig«, sagte sie. »Wir sollten den Hasen nicht vergessen. Das gibt einen schönen Braten.«
Jetzt sah auch Jari das Falleisen. Es hatte dem Hasen, einem jungen Hasen, das Genick gebrochen und den Kopf zerquetscht. Jari schluckte, als er die dunklen Blutflecken im Fell des Tieres sah. Die Fallen fielen ihm wieder ein, die er Jascha stellen wollte: Fallen aus Worten. War es dies, was geschehen würde, wenn sie hineinging? Würde er ihr das Genick brechen?
Sie bog die Eisen auseinander und zog den leblosen Körper heraus. Einen Moment lang hielt sie den Hasen im Arm, streichelte sein Fell, schien lautlos zu ihm zu sprechen.
»Das Haus ist nicht mehr weit«, sagte sie dann.
Er nickte. »Komm«, flüsterte er. »Komm, meine Nachtigall.«
Sie hörte das letzte Wort nicht mehr.
Sie hielt sich bereits beim vorletzten die Ohren zu.
Herbstbronze
Jari schlief wie betäubt, wie tot, er schlief wie ein Felsen an einem dunklen See.
Und dann erwachte er und wusste, dass das Kind wieder weinte. Seine Glieder waren schwer wie die Nacht selbst. Er zwang seine Beine, sich zu bewegen. Aufzustehen. Zum Fenster zu gehen. Die Möbel im Zimmer schienen sich zu dehnen und wieder zu schrumpfen. Nichts war sicher.
Unten vor dem Haus saß Jascha im Mondlicht auf einer Bank. Konnte auch sie nicht schlafen? Zu ihren Füßen lag zusammengerollt ein junger Fuchs, und hinter ihr stand ein Hirsch mit einem stattlichen Geweih, den Kopf vertrauensvoll auf ihre Schulter gelegt. In ihrem Schoß aber hielt sie das Messer mit der scharfen Klinge. Sie sah nicht zu ihm auf. Sie sah nur das Messer an.
Jari schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, war alles verschwunden: Jascha, die Bank, die Tiere. Ihm war übel. Irgendwo in seinem Hinterkopf brannte das Bild eines roten Pilzes mit weißen Tupfen. Und er verstand: Die Wirkung des Giftes war noch einmal zurückgekehrt, besuchte ihn jetzt nachts und lachte ihn aus.
Das Kind weinte im unteren Stockwerk, jetzt hörte er es wieder. Wusste das Kind, dass er hier war? Hoffte es, dass er, der Fremde, eine Tür öffnete?
Er musste diesen Pilz loswerden. Er ging in das winzige Bad hinüber, steckte sich einen Finger in den Hals – und erbrach nichts als Galle. Aber als er hinterher eiskaltes Wasser über sein Gesicht laufen ließ, begann er langsam, sich besser zu fühlen. Er ließ sich mit dem Rücken an der Wand hinabgleiten, hockte eine Weile auf dem Boden und dachte wieder an Matti: an ihre letzte Nacht mit zu viel Bier, nach der er sich ähnlich gefühlt hatte. Annelie war gegangen, und Jari hatte Matti geholfen, sich zu betrinken.
»Nicht dass ich’s nicht hätte kommen sehen«, hörte er Matti noch sagen. »Aber irgendwie dachte ich, wir kriegen noch die Kurve. Ich meine, sie war wie ich, sie hat wirklich zu mir gepasst, verstehst du? Sie hatte diese Tätowierung auf der Brust, einen Drachen, der hat sich immer mit ihr mitbewegt, und sie wäre mit mir auf dem Motorrad durch die Wüste gefahren, und sie mochte diese Dinger, diese, na, nicht Zitronen, die anderen, die man in Flaschen steckt, und
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