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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Furcht.
    Er trat einen Schritt auf die stillen Frauen zu und berührte die erste von ihnen an der Schulter. Ein jäher Schmerz ließ ihn zurückzucken. Da war etwas Feuchtes an seinem Finger. Blut. Und die Schulter unter dem Stoff war kalt gewesen, kalt und leblos. Nein, keine der Frauen in diesem Raum atmete. Er verstand die Stille jetzt. Sie waren tot.
    Er wollte schreien. Er wollte sich umdrehen und weglaufen. Den Flur entlang, die Treppe hinunter, aus dem Haus. Aber er würde den Weg aus dem Wald niemals alleine finden. Seine Gedanken rasten. Den Morgen abwarten, Jascha dazu bringen, ihn aus dem Wald zu führen. Nicht mehr darüber nachdenken, was hier geschehen war oder noch geschah. Der Zug. Nach Hause. Spitzendeckchen. Teetisch. Bretter. Schrauben. Vergessen.
    Vergessen.
    Er machte einen Schritt zurück, stolperte und fiel, tastete um sich, panisch. Es war die Kerze, über die er gefallen war. Er fand die Streichhölzer in seiner Tasche, zündete sie wieder an und stand auf, am ganzen Leib zitternd. Noch einmal hielt er die Kerze hoch. Das Licht, zurückgeworfen von den Spiegeln, fiel auf die augenlosen Gesichter der Frauen, der Mädchen, der Kinder. Und jetzt sah Jari, was der schmale Streifen Mondlicht ihm nicht gezeigt hatte: Die Frauen, die Mädchen, die Kinder besaßen nicht nur keine Augen. Ihre Gelenke bestanden aus Holzkugeln, biegbar, sorgsam gefertigt.
    Schneiderpuppen.
    Es waren nichts als Schneiderpuppen.
    Bisher hatte er solche Puppen nur als Torsi gesehen, Körper ohne Gliedmaßen, doch hier hatte sich jemand mehr Mühe gegeben. Jari ging zum Fenster und zog die Vorhänge zurück. Silbernes Mondlicht verwob sich mit goldenem Kerzenschein und fiel auf die Puppen. Das Kleid der Frau, die er berührt hatte, war noch nicht fertig – der Stoff an der Schulter nur lose zusammengesteckt. Jari hatte in eine Nadel gegriffen.
    Ein irrsinniges Lachen stieg in seiner Kehle empor. Hier stand er, der Zeisig, der Idiot, mitten in der Nacht, neben einer altmodischen Nähmaschine! Das Schwungrad am Tisch hätte ihn gleich darauf bringen müssen. Er trat zu den drei kleinen Mädchen und strich über ihre weichen Mantelkragen. Sie sahen aus, als wollten sie gleich hinauslaufen und im Wald miteinander spielen; beinahe glaubte er, ihr übermütiges, perlendes Lachen zu hören. Das erste kleine Mädchen trug Braun. Das zweite kleine Mädchen trug Rot. Das dritte kleine Mädchen trug Grün.
    »Jascha«, flüsterte Jari. »Sie macht ihre Kleidung selbst. Und hat es immer getan, schon als Kind. Das ist es. In diesem Raum beginnt die Schönheit.«
    Aber natürlich stimmte es nicht, natürlich begann die Schönheit mit Jascha selbst.
    Als Jari die Tür wieder hinter sich abschloss, fiel ihm etwas ein. Das Kind. Das Kind hatte in diesem Raum geweint. Er hatte das Kind nicht gefunden.
    Sie lachte, als er ihr die Geschichte am nächsten Morgen erzählte.
    Sie hatte einen Klapptisch unter den Apfelbäumen aufgestellt. Um ihre Schultern lag ein Schal von der Farbe der Holunderbeeren. Der Himmel war blau über den Ästen der Bäume, ihre Blätter wie aus Gold und Bronze gewirkt.
    »Weinen blinde Schneiderpuppen nachts?« Es klang wie ein Satz aus einem Kinderspiel, in dem es darum geht, möglichst unsinnige Satzteile zusammenzufügen: Der Opa sitzt in der Badewanne und singt. Harmlos, unsinnig.
    »Wie bitte?«
    Jari griff nach dem Bastkorb, in dem warme Eier lagen. Die Hühner hatte er bereits gesehen: keine Magie. Alles kam irgendwoher, selbst das Wasser in der Leitung. Es gab eine Zisterne neben dem Haus, mit einer alten Pumpanlage, durch die man das Wasser von Zeit zu Zeit hinauf in einen Tank pumpen musste. Sie hatte es ihm gezeigt. Alles war erklärbar.
    »Ich sagte: Weinen blinde Schneiderpuppen nachts?«
    »Ich fürchte, das verstehe ich nicht.«
    »Eben«, sagte er. »Ich verstehe es auch nicht.« Er versuchte, Jaschas dunklen Blick einzufangen, doch sie hatte die Augen geschlossen. Die Sonne spielte auf ihrem Gesicht.
    »Nachts«, sagte er sehr langsam, »weint ein Kind. In einem Zimmer im ersten Stock.«
    Sie öffnete die Augen nicht.
    »Der Wirkstoffgehalt von Fliegenpilzen variiert um fünfhundert Prozent«, sagte sie. Noch so ein Satz: Der Opa sitzt in der Badewanne …
    »Ich gebe zu, ich benehme mich die meiste Zeit über idiotisch«, sagte Jari. »Ich falle in Sümpfe, ich verirre mich, ich spiele den Ackergaul für dich. Ich bin nur ein Tischlergeselle. Aber ich bin nicht dumm. Und das Weinen hat nichts damit

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