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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Badewanne und einen Haarschnitt. Und eine Rasur. Wo hast du gesteckt?«
    Branko zuckte die Schultern. »Leute böse auf Branko. In Dörfer. Branko versteckt. Leute sagen, Branko muss weg. Jetzt sagen lauter als wie vorher. Winter kommt, Branko in ein Zimmer, Tür zu, kein Branko da, sie wollen. Branko hat Angst. Branko will keine Tür zu. Auch nicht, wenn Winter.«
    »Bleib nur bei mir, während Jascha ins Dorf geht«, sagte Joana, schlang die honiggelben Arme von hinten um ihn und legte ihren Kopf auf Brankos Kopf. »Hier gibt es keine verschlossenen Türen«, versprach sie. »Hier sind alle Türen offen. Du brauchst das Licht und die Luft, so wie wir. Bleib heute hier.«
    Jari blinzelte. Moment. Joana? Sie musste ganz leise wieder hereingekommen sein, während sich Jascha jetzt offenbar draußen im Flur befand. Vielleicht packte sie bereits die Sachen für ihren Ausflug ins Dorf zusammen. Jari trank seinen Kaffee, der ein wenig seltsam schmeckte, und sah Branko und Joana an. Sie gaben ein merkwürdiges Bild ab, der klobige, hässliche Branko und hinter ihm der Inbegriff der Schönheit, so vertraulich an ihn geschmiegt. Hatte sie ihre Arme auf die gleiche Art und Weise um Jari gelegt, auf dem Rücken des Hirsches, im Regen?
    Branko lächelte zu Joana auf, seine Zähne waren gelb und schief.
    »Branko bleibt«, sagte er. »Weiches Bett, keine Tür verschlossen.«
    »Manchmal steht er mitten in der Nacht auf«, sagte Joana zu Jari, »und geht. Es treibt ihn hinaus an die Luft. Er bekommt Angst vor den Stimmen in seinen Träumen und flieht, dann muss er laufen, weit, weit laufen, und kommt erst Tage später wieder zurück.«
    Branko schenkte sein schräges Lächeln jetzt Jari und zuckte die Schultern, entschuldigend.
    Wenn ich so wäre wie Branko, dachte Jari. Wenn ich so hilflose, riesige Hände hätte und einen so großen, leeren Kopf, der nicht denkt. Würde mich dann eine von euch mit in ihr Bett nehmen?
    Als er zurück zur Eckbank sah, war Jascha zurückgekehrt, sie saßen wieder zu zweit dort. Der Fuchs sprang durch das offene Fenster herein, um es sich auf dem Fensterbrett bequem zu machen.
    »Ich gehe«, sagte Jascha. »Es ist früh genug. Cizek … kommst du mit?«
    »Moment«, sagte Joana. Mehr sagte sie nicht, doch in dem Blick, mit dem die beiden sich gegenseitig ansahen, standen lautlose Worte. Der Blick war scharf und stechend.
    »Er hat vielleicht eine gebrochene Rippe«, erwiderte Jascha sehr leise. »Im Dorf gibt es einen Arzt.«
    Jari stand auf und spürte den Schmerz wieder. »Ich weiß nicht, ob ein Arzt viel gegen eine gebrochene Rippe ausrichten kann«, sagte er. »Aber ich werde mitgehen. Ich kann tragen helfen. Die Bilder.«
    »Es sieht eher aus, als müsste jemand dich tragen«, sagte Joana mit einem kleinen spöttischen Lachen. »Zeisig. Bleib hier, und leg dich hin.«
    Er bemühte sich, gerader zu stehen. »Es geht schon. Ich habe … eine Menge Rippen. Es kommt nicht auf eine mehr oder weniger an. Ich … gehe nur nach oben und hole das Handy. Vielleicht kann ich es irgendwo im Dorf aufladen. Der Akku ist fast leer.«
    Das Handy war nicht da. Es steckte nicht in seinem Rucksack und nicht in der Tasche der Hose, die über dem einzigen Stuhl hing. Jemand hatte es geholt. Jari kniete auf dem Boden, schwer atmend, versuchte, die Rippe zu ignorieren und klar zu denken. Sie wollten nicht, dass er telefonierte. Sie hatten seinen einzigen Kontakt zur Außenwelt abgeschnitten. Sie brauchten ihn so sehr, dass er nicht gehen durfte. Dass er nicht wissen durfte, wie viel Zeit verging.
    Er sah unter den Tisch, unters Bett – und da lag es, das Handy, es musste hinuntergefallen sein, niemand hatte es geholt, niemand hatte es ihm weggenommen. »Dummkopf«, flüsterte er. Neben dem Handy lag etwas Weißes. Der Umschlag. Diesmal öffnete er ihn, ohne zu zögern. Es war immerhin sein dritter Anlauf. Das Blatt, das er aus dem Umschlag zog, war beinahe unlösbar verklebt. Stellenweise rissen Schichten des Papiers ab, als er es zu entfalten versuchte.
    Zeisig, las er, besser ist es … Dann kam etwas Unleserliches und dann: … zu lange. Glaub nichts, was du siehst. Nichts ist … Hier war die Schrift verlaufen, aber weiter unten stand: … vor dir kam, ist drei Jahre geblieben. Jetzt ist er weit fort. Folge ihm nicht. Und erzähle niemandem von diesem …
    »Brief«, ergänzte Jari flüsternd. »Erzähle niemandem von diesem Brief. Glaub nichts … glaub nichts, was du siehst. Nichts ist … richtig?

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