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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Moos, Herbstblätter und Baumrinde.
    »Manchmal frieren wir – an der linken Hand«, wisperte sie. »Es ist unerklärlich. Unser Vater ist seit zehn Jahren tot. Vor dir war einer, das war ein Wünschelrutengänger, und wohin er gegangen ist, weiß niemand. Und was Branko dir nicht sagen will, weiß nur er selbst. Branko kann manches nicht sagen, was er sagen will, und will manches nicht sagen, was er sagen kann.«
    Sie holte tief Luft, sie hatte rasch gesprochen, hektisch. »Und: ja. Wir brauchen dich, Jari. Wir brauchen dich sehr. Wir brauchen dich, um uns zu beschützen. Aber du gehst mit mir zur Galerie zurück, wohin ich noch nie jemanden gebracht habe.« Sie brach ab, blinzelte etwas wie Wasser aus ihren Augen fort. »Wir haben die Hälfte des Weges hinter uns. Gleich kommen wir durch die Klamm.«
    Jari sah an den Felswänden empor wie beim ersten Mal. Er fühlte sich zwischen ihnen wie ein gefangenes Tier. Es war, als lauerten die überhängenden Bäume dort oben … lauerten wie die Felsen, die so unangenehm nah am Rand der Klamm lagen.
    »Wenn einer von denen da sich eines Tages in den Kopf setzt, hinunterzustürzen«, sagte er, »dann möchte ich nicht gerade hier unterwegs sein.«
    »Sie stürzen nicht«, sagte Jascha. »Sie liegen dort seit Jahrzehnten.«
    Und dann, als die Klamm schließlich hinter ihnen lag, setzte sie die Kiepe ab, um sich zu verwandeln, zog Schicht über Schicht, bis sie wieder die unförmige Gestalt mit den dünnen Armen und dem plumpen Rumpf war, das bedauernswerte, humpelnde Geschöpf mit dem Buckel und der dicken, hässlichen Brille. Zum Schluss strich sie die durchsichtige Folie auf ihrer Haut glatt, die den Mundwinkel auf einer Seite hinunterzog. Jari sah ihr zu, und obwohl er gewusst hatte, dass es geschehen würde, verblüffte es ihn doch von Neuem.
    »Tut Branko das auch?«, fragte er. »Verwandelt er sich, sobald ich wegsehe? Zieht er eine Folie von seinem verunglückten Lächeln, tauscht seine Zähne aus und ist ein anderer? Ein wortgewandter Athlet? Ein elegantes Model?«
    »Branko ist nur Branko«, erwiderte Jascha. »Komm!«
    Sie nahm ihn an der Hand und begann zu rennen, schaukelnd und unstet auf ihren unterschiedlich hohen Schuhen. Sie lachte dabei. Auch er rannte nicht schnell, seine Rippe hinderte ihn daran. Hier kommen wir, dachte er, zwei Wracks an einem kalten Sonnentag.
    Sie rannten bis zum Bärenfelsen, rannten den Hang hinab wie zwei Kinder. Bei den ersten kleinen Gärten hatte jemand das Laub zu einem großen Haufen zusammengefegt, und sie ließen sich gemeinsam hineinfallen. Einen Moment lang lagen sie nebeneinander in den Blättern und sahen in den Himmel, und Jari befahl dem Schmerz in seiner Brust, ihn in Ruhe zu lassen. Jaschas Hand fand die seine und drückte sie ganz fest.
    »Wenn wir immer und immer so liegen bleiben könnten«, sagte sie. »Wenn wir nie irgendwohin gehen müssten. Nicht ins Dorf und nicht zurück in den Wald.«
    Er richtete sich auf, mühsam, die verdammte Rippe. »Müssen wir das?«
    »Sie warten dort auf mich. Der Wald ist mein Zuhause. Ich kann nicht fort.«
    »Sie warten? Wer wartet?«
    »Joana und …«
    »Branko?«
    »Ja. Branko. Richtig.« Sie stand auf, klopfte die Blätter von ihrem unförmigen Umhang, schob die dicke eckige Brille zurecht. Dann ging sie weiter, auf die Häuser zu. Jari folgte ihr kopfschüttelnd.
    Die schmale Straße, die kaum Platz für einen Bürgersteig bot, kam Jari jetzt breit vor. Und hässlich. Er hatte zuvor nicht bemerkt, wie hässlich sie war. Er erinnerte sich, sogar gedacht zu haben, dass es eine hübsche Straße war, eine hübsche alte Straße in einem hübschen alten Ort. Aber die Tatsache, dass die Häuser alt waren, machte sie nicht schöner. Ihre weißen Wände waren fleckig, die Farbe blätterte ab, und die Fenster starrten ihn an wie blinde Augen. Die eckigen Schatten, die die Häuser auf die Straße warfen, waren hart und taten ihm in den Augen weh. Er vermisste die geschwungenen, nicht eckigen, nicht geraden Formen des Waldes beinahe schmerzlich, er wünschte, er könnte wilden Wein an diesen allzu menschlich kalten Wänden emporwachsen lassen, Wein, der die Häuser unter seinen blutroten Blättern und Ranken verbarg.
    Als er einen Seitenblick auf Jascha warf, glaubte er auf einmal zu verstehen, warum sie sich verkleidete, wenn sie den Wald verließ. Sie tat es, um sich anzupassen. Ihre Schönheit gehörte in den Wald und ihre Hässlichkeit zu den Menschen.
    Im Fenster der Galerie

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