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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Nichts ist, wie es scheint? Besser ist es … besser ist es, fortzugehen.«
    »Du kannst nicht für immer im Wald bleiben«, hatte Matti gesagt.
    »Junge«, hatte Tronke gesagt, »komm mit. Raus.«
    Jari schüttelte den Kopf. »Aber einer muss doch herausfinden, was im Wald geschehen ist!«, sagte er. »Einer muss etwas … ändern. Der vor mir kam, ist jetzt weit fort … Wer immer das war, er hat das Kind nicht weinen gehört. Jemand ist hier, irgendwo, zwischen den Zeilen, jemand, der Hilfe braucht.«
    Er hörte sie streiten, als er sich auf der Treppe vom ersten Stock befand. Sie waren im Flur, bei der Vordertür, sie stritten leise, aber er hörte sie dennoch. Und wieder war ihr Streit wie ein merkwürdiges Selbstgespräch, denn es gab keinen Unterschied zwischen den Stimmen.
    »Du kannst ihn nicht mitnehmen«, sagte die eine.
    »Natürlich kann ich«, sagte die andere.
    »Wir haben nie einen mit hinausgenommen.«
    »Wir haben auch nie einen eingesperrt.«
    »Nein. Eingesperrt haben sie sich alle selber.«
    »So wie wir. Ist dir je der Gedanke gekommen, dass auch wir uns selbst eingesperrt haben?«
    »Verlierst du den Verstand?«
    »Nein. Ich finde ihn. Ich …«
    Da war ein Knall, etwas, das sich anhörte wie eine Ohrfeige. Jari zuckte zusammen, und dann verstand er nichts mehr, weil die Stimmen flüsterten. Er hörte die Haustür zufallen und ging langsam die Treppe hinunter. Zog die grünen Stiefel an.
    Vor dem Haus saß Branko in einem alten hölzernen Schaukelstuhl und hielt sein Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne. Er wippte gemächlich, und Jari fragte sich, ob er schlief. Sein Kinn war jetzt glatt rasiert und sein Haar ordentlich gekämmt und geschnitten. Wann hatten die Schwestern Zeit dafür gefunden, Brankos Haare zu schneiden? Jari trat neben den Schaukelstuhl und betrachtete das Gesicht mit den geschlossenen Augen.
    »Branko«, sagte er schließlich.
    »Ich-bin-ich-bin«, sagte Branko, ohne die Augen zu öffnen, und Jari begriff erst mit etwas Verzögerung, dass Branko das für seinen Namen hielt.
    »Was weißt du über die Schwestern?«
    Branko schüttelte den Kopf, unwillig. Jari kniete sich neben ihn. Sein Mund war jetzt ganz nahe neben Brankos Ohr.
    »Bitte«, flüsterte er. »Was wollen sie von mir? Es ist etwas, das Branko nicht tun kann, oder?«
    Branko öffnete die Augen und sah Jari an. Das helle Blau, in dem seine Pupillen schwammen, wirkte unfertig, wie etwas halb Geronnenes, nicht gut Vermischtes. Er starrte Jari mit diesen Augen an und presste die Lippen fest aufeinander.
    »Branko weiß es«, sagte Jari. »Branko weiß auch, was mit dem Vater der Mädchen geschehen ist.«
    »Mädchen«, sagte Branko. »Alles eins. Still, still, nicht mehr bewegt. Tot, tot. Jetzt Branko schläft.«
    Dann kniff er Augen und Lippen wieder zu.
    »Branko?« Jari schüttelte ihn, doch Branko atmete jetzt ruhig und gleichmäßig, als wäre es ihm tatsächlich gelungen, aus reinem Willen tief einzuschlafen.
    »Jari!«, sagte Jascha – oder Joana –, und er blickte auf. Sie trug den Mantel, der über und über mit Pflanzen und Tieren des Waldes bestickt war. Das schwarze Haar hatte sie mit einem grünen Band zurückgebunden, was sie jünger wirken ließ, und auf ihrem Rücken trug sie die Kiepe. Daraus ragten zwei in Stoff gewickelte Leinwände hervor.
    »Komm, Cizek«, flüsterte sie und hob ihren Rock, nur ein wenig, um ihn eine Narbe am Bein sehen zu lassen. Ihm mitzuteilen, wer sie war. Jascha. »Komm rasch.«
    Der Wald war so schön wie am ersten Tag und genauso fremd. Vielleicht war es unmöglich, ihn kennenzulernen. Der Schmerz in Jaris Brust schwoll mit jedem Schritt an und ab, die Stunden vergingen. Neben Jari wanderte das schönste Mädchen, das er kannte, abgesehen natürlich von jenem anderen, identischen Mädchen, und in ihrer Kiepe trug sie zwei Bilder, die gemalt worden waren, um etwas zu verschweigen.
    Schließlich fielen die Fragen aus seinem Kopf in seinen Mund, alle auf einmal.
    »Warum der Handschuh? Was ist mit eurem Vater geschehen? Was will Branko mir nicht sagen? Wer war vor mir hier, und wohin ist er gegangen? Wessen Hand hält die Pistole auf dem Bild? Und wozu braucht ihr mich? «
    »Warte«, wisperte sie. »Das sind sehr viele Fragen auf einmal. Lass es mich der Reihe nach versuchen.« Sie sprach sehr leise, so leise, dass er näher trat, um sie besser zu hören, und er atmete den Duft des Waldes ein, den sie verströmte: Harz und Fichtennadeln, sonnenbeschienenes

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