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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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hing ein röhrender Hirsch. Die Türglocke klingelte leise, und Jari dachte daran, wie er Jaschas Lachen mit dieser Glocke verglichen hatte. Jetzt schien der Vergleich ihm abstrus, ihr Lachen war viel reiner, viel makelloser als die alte Glocke über der Tür.
    Die Galerie hatte Besucher. Ein älteres Ehepaar in teuren Outdoorjacken, wasser-, wind- und erdbebenfest, stand vor dem Bild eines Sumpfes bei untergehender Sonne. Die toten Bäume, die mit ihren Astfingern in den Himmel griffen, waren nicht unheimlich. Sie waren hässlich wie die Straße. Der Maler hatte die Schönheit der Natur nicht begriffen. Vermutlich hatte er nie einen Sumpf gesehen.
    Das einzig Schöne in der Galerie war das grüne Wollkleid der Galeristin. Jari erkannte das aufgestickte Muster am Saum, winzige rote Ahornblätter, und lächelte. Er wusste, wer das Kleid gemacht hatte.
    »Da bist du, mein Kind«, sagte die Galeristin zu Jascha und schüttelte ihre Hände, die jetzt klauenartig wirkten, verkrampft. Wie konnte Jascha ihre Hände so halten? Oder wurden sie von selbst zu mageren Klauen, wenn sie in die Welt der Hässlichkeit eintauchte?
    »Warte einen Moment, ich muss mich erst um diese Herrschaften kümmern. Setz dich doch. Und stell um Gottes willen diese Kiepe ab …«
    »Ich wollte sie tragen«, sagte Jari. »Die Kiepe. Sie hat mich nicht gelassen.«
    Die Galeristin drehte sich um, sie schien ihn erst jetzt zu bemerken.
    »Ihr seid zu zweit gekommen«, stellte sie fest, und die vielen grauen Löckchen ihrer Dauerwelle wippten erfreut auf und ab. »Hier. Hier ist noch ein Stuhl. Mein armes Lamm, hast du einen Hirten gefunden?«
    Die Bemerkung war so lächerlich, dass Jari nicht wusste, was er erwidern sollte. Er setzte sich neben Jascha, hinter den Tisch mit dem Kartenlesegerät, und steckte die Hände in die Taschen, nur um irgendetwas mit seinen Händen zu tun. Die alte Kupplerin, hatte Jascha gesagt, damals, vor tausend Jahren. Nun glaubte sie wohl, er hätte sich des hässlichen Entleins angenommen, eine Liebe aus Mitleid. Viel weiter, dachte er, kann man nicht von der Wahrheit entfernt liegen.
    Die Galeristin sprach mit dem erdbebenfesten Ehepaar über die stimmungsvolle Beleuchtung des Sumpfes und die ausdrucksstarken Gesten der toten Bäume. Jari blickte zu Jascha hinüber. Eine Weile spielten ihre Finger mit dem Kartenlesegerät wie die Finger eines kleinen Kindes. Dann, ganz plötzlich, griff sie in die Kiepe und zog das kleinere der beiden Bilder hervor. Es war kaum größer als ein DIN-A4-Heft. Sie wickelte es aus und legte es auf den Tisch.
    Jari beugte sich vor. Das Bild zeigte den Wald, natürlich. Aber mitten darin, beinahe verborgen hinter den Bäumen, lag etwas Rundes, schwarz Glänzendes. Das dunkle Auge. Im Wasser schwammen die blutroten Blätter des Ahorns, und am Ufer stand eine winzige Figur, kaum auszumachen und doch deutlich nackt. Er war sich nicht ganz sicher, die Schatten, die die Bäume auf den See warfen, waren irritierend – aber er glaubte, dort jemanden schwimmen zu sehen. Einen Kopf mit zerzaustem braunem Haar. Sich selbst. Er schnappte nach Luft. Er wusste, was auf diesem Bild geschehen war, zwischen den Zeilen, hinter den Farben, unter der oberflächlichen Melodie. Der Ast des Ahorns, der waagerecht über den See ragte, sagte genug. Der Wilderer hatte sich dort erhängt. Man sah das Kreuz im Felsen nur, wenn man danach suchte.
    Er wusste? Er wusste gar nichts. Er kannte die Gründe nicht, die den Wilderer den Strick hatten nehmen lassen. Joana hatte gesagt, sie hätte sie auch nicht gekannt, aber er war sich nicht sicher. Es war kalt in der Galerie.
    »Oh, schau«, sagte die Frau. Ihre Plastikjacke knisterte, als sie sich umdrehte. »Dieses!«
    »Ja«, sagte der Mann und sah über ihre Schulter. »Nicht den Sumpf. Dieses. Es ist wunderschön. Die Details … allein diese Ahornblätter … Man erkennt sie genau, obwohl sie so winzig sind … Und die junge Frau am See …«
    »Was für eine friedliche Szene«, sagte die Frau mit einem Lächeln. »Das Ende der Romantik ist noch fern.«
    Die Galeristin nickte und nannte einen astronomischen Preis. »Es ist ein Original«, sagte sie. »Ich kenne die Malerin. Es gibt jedes ihrer Bilder nur ein einziges Mal. Keine Drucke. Keine Vervielfältigungen.«
    »Sie nehmen Karte?«, fragte der Mann.
    Jari sah den beiden lange nach, wie sie die Straße hinunter verschwanden, das Bild sorgsam verpackt unter dem Arm. Das Ende der Romantik war lange her. Er fragte

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