Solange die Nachtigall singt
den Nebelwald streichen.«
»Sie sucht ihre Jungen«, murmelte Jari, die Worte tauchten einfach so in seinem Kopf auf. »Drei waren es …«
»Bären sind verdammt gefährlich«, flüsterte sie und hielt das Tablett, als überlegte sie, ob man sich damit notfalls gegen eine wütende Bärin verteidigen könnte. »Eines Tages kommen sie herunter, die Bärin und auch die Wölfe, sicher. So wie früher, in den Märchen. Das sagen alle. Wenn die Winter zu schlimm werden. Sie werden ja schlimmer, jetzt, mit dem Klimawandel … Alles wird schlimmer … auch der Schnee. Weißt du, warum sie nie eine Straße durch den Wald gebaut haben?« Sie beugte sich noch weiter vor. »Die Leute vom Straßenbau haben auch Angst. Vor zwei Jahren ist ein Holzfäller im Nebelwald verschwunden. Mein Vater kannte ihn. Sie haben ihn nicht gefunden, nicht mal seine Leiche. Die Wölfe haben ihn mit Haut und Haaren gefressen, sicherlich.« Sie nickte, irgendwie zufrieden.
»Früher hat mal einer gewohnt da im Wald, ganz allein. So ein komischer Alter. Kam manchmal ins Dorf, um irgendwas zu kaufen. Hat aber mit keinem viel geredet. Ich kann mich nicht an ihn erinnern, ich weiß das nur von meinen Eltern. Den Weg zu seinem Haus hat er zuwuchern lassen, haben sie gesagt, der wollte keinen Besuch, wollte ganz allein sein. Irgendwann kam er nicht mehr ins Dorf, ist wohl gestorben, und das Haus steht leer. Muss eine Ruine sein … Stell dir vor, eine Ruine mitten im Wald … und der Wind und die Wölfe gehen dort ein und aus … Wäre das perfekte Setting für einen Vampirfilm. Neulich war mal ein Regisseur hier, aber der wollte irgendwas anderes … Überhaupt glaube ich , die Wölfe haben den Alten gefressen. So wie alle anderen, die sich in den Wald wagen.«
»Ich bin in den Wald gegangen und wieder herausgekommen«, erwiderte Jari und lächelte sie an. Und fragte sich, irgendwo hinter seinem Lächeln, ob er das Haus nicht kannte, von dem sie sprach. Ob es vielleicht keine Ruine war.
»Ja, natürlich, es gibt auch Wanderer, die wieder rauskommen.« Sie klang etwas enttäuscht.
»Und Branko«, fügte Jari hinzu, »scheint es andauernd zu tun.«
»Branko? Der Verrückte? Hast du ihn da oben getroffen?« Sie hatte das Tablett abgelegt und begonnen, die zweite Bockwurst zu essen. Sie selbst schien diesen Umstand nicht zu bemerken. Jari verbiss sich ein Grinsen.
»Ist er denn so verrückt?«
»Die Leute hier erschrecken ihre Kinder mit Geschichten über ihn«, sagte sie zwischen zwei Bissen Bockwurst. »Er sitzt ab und zu am Bahnhof und bettelt. Er bettelt in allen Dörfern in der Gegend, verkauft auch Dinge … Garn, Nadeln, Seife, was weiß ich. Und dann verschwindet er, vielleicht in den Wald, und dann taucht er plötzlich wieder auf. Manche …« Sie wischte sich die Hände an einer Papierserviette ab. »Manche Leute sagen, Branko ist ein Mörder.«
Jari dachte an Branko in dem Liegestuhl, in der Sonne, die riesige ausgestreckte Gestalt mit den klobigen Händen. Seine geronnenen Wasseraugen. Seine zusammengekniffenen Lippen, seine Entschlossenheit, nichts zu sagen. Ein großes Kind.
»Er gehört in ein Heim. Eine Anstalt. Hinter Mauern. Da wäre man sicher vor ihm.«
»Wen soll er denn umgebracht haben?«
»Ach, ich weiß nicht. Ich war damals noch zu klein.« Ein Eierwecker klingelte, und sie sprang auf, griff das Tablett. »Die Brötchen!« Damit rannte sie in die Küche, das Piepen hörte auf, Bleche klapperten.
Jari stapelte die Bockwurstteller. Vor dem Fenster zogen Wolkenschatten über den kleinen Bahnhofsvorplatz mit der verlassenen Bushaltestelle. Auf der Uhr mit dem Plastikhahn waren es noch sieben Minuten, bis der Zug nach Zittau kam.
Er stand auf. Es wäre einfach. Er hatte sein Portemonnaie in der Tasche, auch das Handy, alles, was er brauchte. Der Rucksack war unwichtig, das Zelt und die zweite Hose gleichgültig. Er würde über die Straße gehen, in den Zug steigen, eine Karte beim Schaffner lösen. Sein Job in der Tischlerei wartete auf ihn. Er würde viel zu erzählen haben an den Abenden, wenn er in Mattis Küche saß.
Jascha hatte gewollt, dass er ging. Sie hatte ihn aus dem Wald gebracht, sie hatte ihn zu dem Tisch am Fenster bugsiert, von dem aus man den Bahnhof sah. Sie gab ihm Zeit, zu verschwinden, ohne ihr ins Gesicht zu sagen, dass er ging.
Er legte das Geld für die Würste und den Kaffee auf den Tisch.
Drüben, auf der anderen Straßenseite, fuhr der Zug ein.
Er rannte.
Das erste kleine Mädchen
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