Solange die Nachtigall singt
weinst«, stellte Jari fest.
Sie schüttelte den Kopf. Eine glänzende schwarze Haarsträhne löste sich und fiel unter dem grauen Tuch hervor, und Jari steckte sie zurück.
»Ist das wieder nur der Nebel in deinen Augen?«
»Ja«, sagte sie. »Ja, es ist … sehr neblig hier. Bis ich wiederkomme, kannst du … dir ja die Zeit vertreiben, indem du die Züge zählst …« Sie lachte leise und sah auf die Uhr, die im Café hing, verziert mit einem rot-grünen Plastikhahn und einem mumifizierten Strauß Weizenähren. »Der nächste fährt in vierzig Minuten. Nach Zittau. Ich bin in einer Stunde wieder da.«
Sie schob die Brille zurück vor ihre nassen Dunkelaugen, stand auf und hielt sich dabei am Tisch fest, als schmerzte ihr buckeliger Rücken. Jari stand ebenfalls auf, ging ihr nach, zur Tür. Sie drehte sich noch einmal um, legte eine magere, blasse Hand auf seine Wange. »Zeisige«, flüsterte sie, »sind Zugvögel.« Dann wandte sie sich ab und ging die Straße entlang, rannte beinahe, in ihrem humpelnden, wiegenden Schritt.
Jari setzte sich zurück an den Tisch und trank den Rest des kalt gewordenen Kaffees. Der Schmerz in seinem Brustkorb kehrte mit durchdringender Schärfe zurück. Wenn er die Augen schloss, hörte er die Worte, die sie gesagt hatte: Komm, komm rasch. Wenn wir immer und immer so liegen bleiben könnten. Der nächste fährt in vierzig Minuten. Nach Zittau. Ich bin in einer Stunde wieder da .
»Zweimal Bockwurst?«
Jari öffnete die Augen. Neben seinem Tisch stand die Bäckereiverkäuferin in ihrer mit irgendeinem Logo bestickten Schürze, ihr Gesicht eine Frage.
»Ja, ich … sie … kommt gleich wieder.«
»Ich kann die Wurst nicht warm halten.« Sie stellte zwei Teller mit Brötchen, Wurst und Ketchuptütchen vor ihn. »Warten Sie auf den Zug nach Zittau? Ist noch ’ne halbe Stunde.«
Er antwortete nicht. Er wusste nicht, ob er auf den Zug nach Zittau wartete. In Zittau war er auf dem Hinweg umgestiegen. Von Zittau aus kam man überallhin. Nach Hause zum Beispiel. Zu einem Küchentisch mit einer Spitzendecke, zu selbst gebackenen Keksen und Sonntagsgottesdiensten und einer Tischlerei, zum Fensterbrett einer winzigen Küche voller Bierflaschen. Zu Orten, an denen es keine Rätsel und keine Geheimnisse gab, keine Wahrheit hinter den Dingen. Wo alles einfach war. Auch dort gab es Mädchen: große und kleine, schlanke und üppige, Mädchen mit Lippen und Augen und Händen und Ohren, die darauf warteten, die Geschichte eines Wanderers zu hören – von singenden Felsen und tiefen Schluchten. Aber keines von ihnen hatte glänzendes schwarzes Haar, das aussah wie ein Stück der Nacht. Keines hatte Augen, dunkel wie ein See im Wald.
»… Sie auch gewandert?«, fragte die Bäckereiverkäuferin. Sie hielt das Tablett vor ihrem beschürzten Bauch und war offenbar darauf aus, Konversation zu betreiben, gelangweilt von der Eintönigkeit der Nachsaison. Jari hatte ihr nicht zugehört.
»Ja, gewandert«, sagte er vage. »Im Wald oben.«
»Wo im Wald? Es gibt viele Wege.«
Er seufzte. Konversation. »Über die Sturmhöhe hinauf, am Bärenfelsen vorbei und weiter … Es ist ein Wald ohne Wege.«
Sie schüttelte sich. »Oh, dieser Wald. Keine zehn Pferde würden mich dazu kriegen, meinen Fuß in diesen Wald zu setzen. Zu Anfang sieht er harmlos aus, aber dann wird er immer tiefer und undurchdringlicher … Ich habe es nicht gesehen, man erzählt es sich hier. Sie nennen ihn den Nebelwald.«
Jari lächelte. »Ich weiß. Dunkeltann, Schattenforst.«
»Richtig. Man sagt, der Nebel käme jeden Abend zur gleichen Zeit, und dann sieht man nicht mehr, wohin man geht. Ist es wahr?«
Er nickte, und sie ließ sich auf den Stuhl ihm gegenüber gleiten, beugte sich vor, begierig, mehr zu erfahren. Noch vor zehn Minuten hatte Jascha auf diesem Stuhl gesessen.
»Es gibt auch Wölfe da oben«, flüsterte die Bäckereiverkäuferin. »Seit ein paar Jahren wieder. Man darf sie nicht schießen. Nachts träume ich von ihrem Heulen. Heulen sie wirklich? Hört man sie?«
»Manchmal«, antwortete Jari ausweichend.
»Aber du hast sie nicht gesehen, oder?« Sie war jetzt zu neugierig, um ihn länger zu siezen.
»Ist es wichtig, ob ich sie gesehen habe?«
»Es gibt Leute«, flüsterte sie, »die sind in diesen Wald hineingegangen und nie wieder herausgekommen. Die Naturschützer sagen, die Wölfe greifen keine Menschen an, aber das stimmt nicht. Man hört … man hört, es würde auch eine Bärin durch
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