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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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sich, wie lange. Vielleicht genau zehn Jahre. Was war damals mit Jaschas und Joanas Vater geschehen? In welchem ihrer Bilder verbarg sich seine Geschichte?
    Das zweite, größere Bild, das Jascha hervorholte, zeigte die Nacht im Wald, die Silberstämme der mondbeschienenen Bäume. Auf einem Ast glaubte Jari einen kleinen grauen Singvogel auszumachen. Er sah sehr einsam aus. Doch ehe Jari genauer hinsehen konnte, entfernte die Galeristin den röhrenden Hirsch und stellte den Nachtwald ins Fenster. Dann machte sie Tee, bester Stimmung.
    »Ich weiß nicht, wie du das machst, mein Lamm«, sagte sie zu Jascha. »Deine Bilder … es ist wie eine Art Magie. Die Stoffe auch, die du webst. Den Ballen dort kaufe ich dir persönlich ab, den werde ich für mich behalten. Und du?« Sie wandte sich Jari zu. »Bist du jetzt zum Malerlehrling geworden? Wie war dein Name noch gleich?«
    »Cizek«, sagte Jari.
    »Ach, schau an, ein Zeisig. Fliegst du jetzt immer mit dem Lämmchen hier ein und aus?« Ihr üppiger Busen wackelte, als sie lachte und eine Packung Supermarktkekse auf den Tisch legte. »Schoko mit Mandarinenglasur. Ich mag die Farbe, dieses … Brandorange. Schon der Name, Brandorange , natürlich gibt es den nur in Kleiderkatalogen. Trotzdem … Das Geld muss ich erst holen, ich bewahre ja hier keine Goldbarren auf. Die Leute zahlen selten bar, und mein Lamm möchte Bargeld haben, wie immer, nicht wahr?«
    Jascha nickte und aß einen Keks. Er sah nicht essbar aus, mehr wie eine Mischung aus Schaumstoff und sturmfester Regenjacke.
    »Nimm doch noch Tee!«, sagte die Galeristin zu Jari. »Studierst du? Kunst?«
    »Ich studiere das Flicken von Dächern und die allgemeine Beschaffenheit von Kartoffeläckern«, antwortete Jari. »Vielen Dank, der Tee ist sehr gut.«
    »Kartoffeläckern? Im Ernst? Soll einer aus euch jungen Leuten schlau werden. Sagt, soll ich rasch laufen und das Geld holen? Jetzt kommen keine Touristen, der nächste Zug geht erst in einer Stunde.«
    Jascha schulterte die Kiepe. »In Ordnung. Aber lassen Sie sich Zeit. Wir werden uns etwas zum Mittagessen holen, und ich habe noch ein paar Besorgungen zu machen. Wir könnten uns in zwei Stunden wieder hier treffen.«
    Die Galeristin nickte eifrig. »Wir könnten auch zusammen zu Mittag essen.«
    Jascha legte eine magere Handkralle auf die plumpe kleine Hand der Galeristin. »Nein. Danke.«
    »Ah, ich verstehe, ich verstehe!« Die Galeristin lachte wieder jenes Lachen, das Jari fürchten ließ, die zitternden Graulöckchen würden von ihrem Kopf purzeln wie ein Haufen wolliger Schafe von einem Hügel. »Die Turteltauben wollen allein sein.«
    Sie kramte nach ihrem Schlüsselbund, und schließlich standen sie alle vor der schmalen Tür. Jascha ging voraus, die Straße hinunter. Jari wollte ihr folgen, doch die Galeristin hielt ihn zurück.
    »Warte«, sagte sie. »Zeisig. Sieh mich an. Etwas … etwas an dir hat sich verändert.« Ihre Augen musterten ihn flink wie die eines kleinen Waldtieres. Vielleicht, dachte Jari, zieht man aus der Tatsache, dass sie zu viel redet, die falschen Schlüsse. Sie ist nicht dumm.
    »Deine Augen«, sagte sie. »Etwas ist darin geschehen. In der Tiefe.«
    Aber ehe er reagieren konnte, eilte sie schon davon, bog in eine Seitenstraße ab und war fort.
    »Was hat sie gesagt, die alte Kupplerin?«, fragte Jascha, als Jari sie einholte.
    »Nichts von Belang«, antwortete er.
    Die einzige geöffnete Bäckerei befand sich direkt gegenüber dem kleinen Bahnhof. Jari erinnerte sich, wie er hier angekommen war. Vor hundert Jahren.
    Jascha dirigierte ihn zu einem Tisch am Fenster der Bäckerei. Es gab Bockwurst, aber die musste das Mädchen hinter der Theke erst warm machen. So tranken sie sauren, lauwarmen Kaffee und sahen aus dem Fenster zum Bahnhof hinüber, während sie warteten. Jascha fuhr mit dem Finger den Rand ihrer Kaffeetasse nach, einen unendlichen Kreis. Rund wie das Ufer des dunklen Auges, dachte Jari.
    »Ich werde jetzt gehen«, sagte sie schließlich. »Ich muss noch ein paar Dinge einkaufen. Warte du hier.«
    »Ich komme mit. Ich helfe dir tragen.«
    »Und die Bockwurst, die wir bestellt haben?«
    »Mein Gott, vergiss doch die Bockwurst!« Er griff über den Tisch und schob ihre Brille ein wenig hoch. Es war niemand außer ihnen in dem kleinen Café, die Verkäuferin war in der winzigen Küche verschwunden. »Was ist los?«
    »Nichts«, sagte Jascha. Sie sah ihn nicht an. »Ich komme in einer Stunde wieder.«
    »Du

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