Solange die Nachtigall singt
saß links. Das zweite kleine Mädchen saß rechts. Das dritte kleine Mädchen, das jüngste, saß in der Mitte. Sie spürten das Schaukeln des Wagens, hörten den Motor röhren. Es war heiß. Stickig. Dunkel. Sie saßen in einem verschlossenen Kofferraum. Da war eine Ritze, durch die Luft und ein schmaler, nichtssagender Streifen Licht drangen. Sie würden nicht ersticken, dafür hatten die beiden Männer gesorgt. Die beiden Männer sorgten immer dafür, dass es ihnen gut ging. Gut genug. Der, der ihre Sprache sprach, lächelte manchmal.
Als er die Hand des zweiten kleinen Mädchens verbunden hatte, hatte er nicht gelächelt. Er hatte geweint. Sie hatten es alle gesehen, trotz seiner Sonnenbrille. Er weinte jedes Mal, wenn er den Verband wechselte.
Das zweite kleine Mädchen hatte gesagt, er wäre ihre Chance.
»Ja«, hatte das erste kleine Mädchen gesagt, »er hat Mitleid.«
Das dritte kleine Mädchen hatte geschwiegen. Es hatte den traurigen Mann trösten wollen, trotz seines Messers, aber es spürte, dass es keine gute Idee war, das zu erwähnen.
Das Auto hielt. Weihnachten war drei Wochen her.
Draußen stieg jemand aus dem Wagen.
»Sie treffen ihn jetzt«, flüsterte das zweite kleine Mädchen.
»Und dann tut er, was sie wollen«, wisperte das dritte kleine Mädchen. »Er sagt Ja zu allem, bestimmt. Er hat die Leute von der Regierung überredet.«
»Gleich öffnen sie den Kofferraum und lassen uns heraus«, sagte das erste kleine Mädchen.
»Quatsch«, sagte das zweite kleine Mädchen. »Die Leute von der Regierung stimmen nicht zu. Wenn sie den Kofferraum überhaupt öffnen, dann stehen sie mit ihren Messern davor. Mit großen, langen Messern … Sie werden uns in kleine Stücke schneiden, alle drei, und dann verfüttern sie die Stücke an die Schweine.«
»Welche Schweine?«, fragte das erste kleine Mädchen. »In Deutschland gibt es keine Schweine.«
»Doch«, sagte das zweite kleine Mädchen. »Es gibt welche. In Käfigen, gefangen, so wie wir. Man sieht sie nur nicht auf der Straße.«
»In Käfigen? Die Armen!«, sagte das dritte kleine Mädchen.
»Mitleid mit Schweinen«, sagte das zweite kleine Mädchen. »Herzlichen Glückwunsch. Musst du immer Mitleid mit allem und jedem haben? Deinen Hals schneiden sie zuerst durch, du wirst schon sehen. Ganz langsam, von links nach rechts und dann wieder zurück, weil es nicht tief genug war.«
»Du bist ja verrückt!«
»Hört auf!«, rief das erste kleine Mädchen. »Hört beide auf! Wenn wir streiten, ist alles zu Ende! Wir haben nur uns, uns drei, wie immer schon. Wir müssen zusammenhalten.«
Da schlangen die drei kleinen Mädchen ihre Arme umeinander und hielten sich fest, und das zweite kleine Mädchen, das nicht aufhören konnte, grausame Dinge zu denken, schluckte die grausamen Dinge hinunter.
Als der Motor nach einer Ewigkeit wieder ansprang, hatte niemand den Kofferraum geöffnet.
Das dritte kleine Mädchen begann zu singen, und schließlich sangen die anderen mit, sie sangen in der Dunkelheit, wie sie früher für ihren Vater gesungen hatten, um sich Mut zu machen. »Meine drei Nachtigallen« hatte ihr Vater sie immer genannt, »meine drei kleinen Nachtigallen«.
»Möchtest du nachzählen?«, fragte die Galeristin.
Jascha schüttelte den Kopf. »Ich glaube dir. Wir kennen uns lange genug.«
»Mein Lämmchen, weinst du? Was ist los? Wo ist dein Freund? Der Zeisig?«
»Fortgeflogen«, sagte Jascha.
»Nein«, sagte Jari. »Hast du die Türglocke nicht gehört?«
Sie drehte sich um, gleichzeitig mit der Galeristin, und er wünschte, er hätte ihre Augen hinter den dicken Brillengläsern besser sehen können. Sie hatten die Glocke wirklich nicht gehört, keine von ihnen, vermutlich waren sie zu gewöhnt daran.
»Ich … ich dachte schon, ich hätte dich verpasst«, sagte Jari, außer Atem. »Ich habe eine Jacke gekauft, im Supermarkt. Sie wollten mir eine in Brandorange geben … das ist gerade Trendfarbe, haben sie gesagt. Ich habe lieber eine schwarze genommen. Die stört die Schönheit weniger. Ich dachte, es wäre gut, eine dicke Jacke zu besitzen. Der Winter wird kalt.«
Rosentau
Es war erleichternd, zurückzukommen. Aufzuatmen. Die Formen und Klänge des Waldes zu trinken, das Grün in sich einsinken zu lassen. Er hatte schon vergessen, wie grün der Wald war, grün trotz des Herbstes.
»Warum bist du nicht in den Zug gestiegen?«, flüsterte Jascha, so leise, als dürften nicht einmal die Blätter sie hören. Sie stand
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