Solange die Nachtigall singt
eiskalter Wind. Jari war froh um die schwarze Supermarktjacke und die hohen grünen Stiefel. Würde er noch hier sein, wenn der Schnee den Wald bedeckte? Er füllte die Taschen der Jacke mit Blüten: mit weißen, roten und rosafarbenen Blättern, durchscheinend und zart. Ihre hauchfeinen Adern sahen aus wie Blutgefäße unter blasser Haut. Vor ihm tauchten mal Jascha, mal Joana aus den wilden Rosen auf, hoben einen schlanken Arm und winkten.
Jede Blüte, die Jari abbrach, schien zu sagen: Töte mich nicht! Und er sagte, lautlos, zu jeder Blüte: Ich töte dich, um dich zu retten. Du wirst den Winter in einem Glas überstehen und angesehen werden, obwohl du längst vergangen bist.
Irgendwann blieb er stehen und tastete nach dem Handy. Er würde Matti anrufen, jetzt gleich, und ihm erzählen, wie absurd alles war. Sag meiner Mutter, dass ich mitten im Wald dabei helfe, Marmelade einzukochen … Sag ihr, dass ich hierbleibe. Noch ein Weilchen.
Aber er rief Matti nicht an. Das Handy war fort, die Taschen seiner Hose leer. Es ist irgendwo, dachte Jari, es ist wieder unters Bett gefallen wie schon einmal. Aber diesmal hatte er das sehr entschiedene Gefühl, dass das nicht stimmte. Er war freiwillig in den Wald zurückgekehrt. Er hatte etwas besiegelt, etwas wie einen Pakt, den er nicht verstand. Und Teil des Paktes war es, Matti zu vergessen, die Bierflaschen, die Tischlerei.
»Jascha!«, rief er. »Joana?« Er konnte sie nicht mehr entdecken, sie waren ihm jetzt zu weit voraus, die Schlucht machte hier eine Biegung. Sie mussten lange gewandert sein, die ersten Nebelschlieren hingen schon zwischen den Felsen: Zeit, ans Kaminfeuer zurückzukehren.
»Jascha? Joana!«
Eine leichte Hand legte sich ihm von hinten auf die Schulter.
»Hier, Jari«, sagte Jascha – oder Joana, er war sich nicht sicher. Sie trug links einen Handschuh. In ihren Handschuhfingern hielt sie eine einzelne weiße Rose.
»Ihr wart doch vor mir«, sagte Jari verwundert. »Hör zu, die Nebel kommen …«
Sie sah ihn an, ohne zu antworten, dann hob sie die Hand, schob das schwarze Haar beiseite und steckte die weiße Rose hinter ihr Ohr. Es war ein perfektes Ohr, eine perfekt gebogene kleine Ohrmuschel, und Jari hob die Hand, um sie zu berühren. Sie wich nicht vor seiner Hand zurück. Doch seine Finger blieben mitten in der Luft hängen. Er starrte die Haut unterhalb ihres Ohres an, ein Stück Haut, das er sonst nie sah, weil es immer bedeckt war von langem schwarzem Haar. Sie hatte eine Narbe dort, eine weitere schlecht verheilte Narbe.
Sie bemerkte seinen Blick und ließ das Haar zurück über die Stelle fallen. Jari griff nach ihrem Arm, schob den Ärmel des rosentaufarbenen, weichen Stoffes hoch. Da war nichts. Nur unverletzte Haut. Er kniete sich hin, blitzschnell, griff nach ihrem Rock – fand auch an ihrem bloßen Bein nichts. Oder war es das falsche Bein? Der falsche Arm? Die Spiegel im Haus verwirrten ihn zusehends, er hatte in letzter Zeit Schwierigkeiten, rechts und links auseinanderzuhalten.
Sie stand noch immer still und ließ ihn gewähren, geduldig. Und plötzlich war ihm seine Attacke peinlich. Er stand wieder auf, ohne ihr zweites Bein, ihren zweiten Arm zu entblößen. Einen Moment lang sah sie ihn an – dann drehte sie sich um und lief davon, in die Schlucht zurück.
»Warte!«, rief er. »Ist deine Schwester nicht in die andere Richtung gelaufen? Wohin soll ich gehen? Ich kann mich nicht teilen!«
Doch da hatte der dichter werdende Nebel sie schon geschluckt. Auch die Rosenbüsche verschwanden jetzt im Nebel, er hängte neue weiße Blüten in ihre Äste, sich windende, lebendige Blüten aus milchigen Dunstschwaden.
»Ihr seid verrückt«, sagte Jari und schüttelte den Kopf. »Beide. Soll einer schlau aus euch werden.«
Er ging vorwärts, er ging schnell, er wollte die andere finden, welche es auch war, Jascha oder Joana. Der Nebel lag dicht auf dem Boden wie Watte, die Vögel oben im Wald waren verstummt. Er hörte nur noch das Rauschen des Baches in der Mitte der Schlucht. Und nirgendwo fand er einen weißen Stein, der den Beginn eines Pfades kennzeichnete.
»Keine Panik«, flüsterte er sich selbst zu. »Irgendwo müssen die Mädchen ja sein. Sie haben den Zeisig wohl kaum in die Schlucht gelockt, um ihn dort verhungern und erfrieren zu lassen, sie stellen Fallen für andere Lebewesen, für Hasen, für Hühner, nicht für einen Zeisig. Sie brauchen den Zeisig …«
Aber je mehr er sich das einredete, desto
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