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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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inmitten der falschen, hässlichen Kleider, die sie abgelegt hatte, die klobigen Schuhe lagen neben ihren vollkommenen, bloßen Füßen. Sie war wieder ein Teil des Waldes.
    »Weil es etwas gibt, was ich herausfinden muss«, antwortete Jari und legte seine Hände auf ihre Schultern. »Weil ich nicht gehen kann und dich hierlassen.«
    »Lass mich hier! Bitte!«
    »Nein.« Er zog sie an sich und hielt sie fest, und sie sträubte sich, machte sich steif wie ein Brett in seinen Armen, doch er ließ nicht los.
    »Hast du nicht gehört«, flüsterte sie, »was sie im Dorf über den Nebelwald sagen?«
    »Doch. Mehr, als ich hören wollte. Ich gehe trotzdem mit dir zurück.«
    Sie riss sich los und starrte ihn an, böse beinahe. »Cizek, du bist … du kannst nicht … ich habe noch nie jemanden … ich hätte dich …« Sie verstummte. »Komm. Sie warten auf uns.«
    Und sie warteten.
    Joana nahm Jaris Hände, als er das Haus betrat. Sie drückte sie kurz und sah ernst zu ihm auf, wortlos. Links trug sie einen Handschuh, wie stets. Das Kaminfeuer flackerte. Branko saß auf dem Sofa, groß und klobig, und lächelte Jari sein schräges Lächeln entgegen.
    »Ich-bin-ich-bin ist wieder da«, sagte er.
    Der Fuchs strich um Jaris Beine, in den unzählbaren Spiegeln blühten tausend Lichtreflexe, und die Oboe sang, und das Cello wisperte, und der süßherbe Wein funkelte in den Gläsern. Der Wind wanderte klagend ums Haus; der Herbst lockte den Winter mit raschelnder Zunge, aber das Haus war warm.
    Als er an diesem Abend ins Bett fiel, dachte Jari, er würde so fest schlafen, dass nichts und niemand ihn wecken konnte. Aber er erwachte, in der dunkelsten Stunde der Dunkelheit. Eine Hand krallte sich um seinen Arm, und einen Moment lang war Jari starr vor Schreck. Dann spürte er das Zittern der Hand, spürte die Angst ihres Besitzers. Und hörte seine Stimme.
    »Ich-bin-ich-bin!«, flüsterte Branko. Er schien neben Jaris Bett zu knien. »Es weint wieder! Weint in Brankos Kopf!«
    Jari setzte sich auf. Ja, es weinte wieder. Ein Stockwerk unter ihnen.
    »Wer ist das?«, flüsterte Jari. »Wer weint dort?«
    »Kind«, antwortete Branko. »Kind weint. Wie damals. Hände voll Blut. Still, still. Regt sich nicht, bewegt sich nicht. Alles nass. Branko hebt auf. Branko hat das nicht gewollt. Will das nicht. Will das nicht, hörst du?« Er ließ Jaris Arm los und packte stattdessen seine Schultern; begann, ihn zu schütteln. Seine großen Hände konnten einen Zeisig zerquetschen.
    »Ich höre«, flüsterte Jari. »Ich höre dich ja.«
    »Branko aufhebt«, fuhr Branko fort, lauter jetzt, vielleicht um das Weinen zu übertönen, das er in seinem Kopf glaubte und das doch außerhalb seines Kopfes existierte. »Aufhebt, Branko ist stark. Wegträgt. Aus dem Wald. Zu den Häusern. Leute sagen, Branko ist ein Mörder, Branko ist ein Mörder, Branko ist ein Mörder!« Die letzten Worte schrie er beinahe.
    »Schsch, schsch!«, flüsterte Jari. »Still, still. Du weckst die Mädchen auf.«
    »Die Mädchen?«, fragte Branko irritiert, als hätte er vergessen, dass es sie gab. »Still, still«, sagte er dann plötzlich. »Alle Nachtigallen still. Federn sind unter den Steinen. Still, still, kein Ton.«
    »Du hast sie gesehen?«, flüsterte Jari. »Die Federn bei der Höhle? Unter jedem Felsen eine?«
    »Kleines Kind glaubt Dinge«, sagte Branko, er hatte Jari losgelassen, er schien aufzustehen.
    Es war noch immer zu dunkel, der Nachthimmel draußen voll von gierigen Winterwolken.
    »Branko schützt das Kind«, flüsterte er. »Aber kann nicht alles tun. Manche Ding nicht. Muss anderer tun. Brankos Hände zu grob. Weint noch?« Er lauschte. »Weint! Weint! In Brankos Kopf! Zu lange allein gewesen heute im Haus, kommen Gedanken.«
    »Aber Joana war doch bei dir?«
    »Nein«, sagte Branko. »War im Wald. Mit Ich-bin-ich-bin.«
    »Nein«, erwiderte Jari und lachte. »Du täuschst dich. Jascha war mit mir unterwegs. Warte. War denn keines der Mädchen hier?«
    »Keines Mädchen?«, fragte Branko. »Nein. Keines Mädchen hier, Branko ganz alleine mit Gedanken. Geht jetzt. Branko geht.«
    »Ja, geh und schlaf weiter«, sagte Jari leise. »Vergiss das Weinen, Branko. Es ist nur in deinem armen Kopf.«
    Er sank in die Kissen zurück und versuchte, Klarheit in seinem eigenen Kopf zu schaffen. Waren sie also beide mit ihm im Dorf gewesen, Jascha und Joana, ohne dass er es bemerkt hatte? Oder wusste Branko nur nicht, was er sah? Branko ist ein Mörder, hörte

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