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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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unsicherer wurde er. Die Falle wäre perfekt.
    Er rief ihre Namen und lauschte dem verzerrten Echo. Er rief, bis er heiser war. Die Nebel standen ihm jetzt bis zur Hüfte wie weißes Wasser, die Dämmerung kroch heran, blauviolett legten sich die Schatten der Bäume über die Schlucht wie ein undurchdringliches Dach. Jari kehrte um, lief zurück, begann zu rennen, blind durch die Nebel zu stolpern. Wenigstens die Stelle, an der sie heute in die Schlucht hinabgestiegen waren, musste sich doch finden lassen! Er fand sie nicht.
    Und dann hörte er das Lied. Es glitt von oben zu ihm herab, die Töne tropften in die Schlucht wie Regentropfen, vereinzelt und kaum auszumachen, und er ging ihnen nach, rannte wieder, schneller, schneller! Jetzt, jetzt waren sie ganz nah. Er blieb stehen und lauschte.
    »Lang, dass deine Stimme brach,
    bist stumm.
    Und wenn der Mond scheint
    und wenn ein Kind weint,
    frag nicht, warum.«
    »Jascha«, flüsterte er. »Joana.« Sie waren es. Sie waren dort oben und sangen für ihn, um ihm den Weg aus der Schlucht zu zeigen. Ihm wurde warm von diesem Gedanken. Sie hatten ihn nicht im Stich gelassen. Sie spielten nur wieder eines ihrer Spiele. Er tastete die Felswand ab. Da war nichts, kein Pfad, kein Ausweg. Kamen die Stimmen von der anderen Seite der Schlucht? Er watete durch den kleinen Bach und legte seine Hände an den Felsen dort. Der Felsen war glatt.
    »Bist nur ein Traum im Wald,
    ewig jung und uralt,
    stumm, stumm.«
    »Stumm, stumm«, wiederholte das Echo. »Stumm, stumm.« Dann war alles still, und plötzlich war Jari sich nicht mehr sicher, ob er die Stimmen überhaupt gehört hatte. Waren sie nur seiner Einbildung entsprungen? Er trat von der Wand zurück, sah hinauf in Dämmerung und Nebel – und auf einmal rieselten kleine Steine hinter ihm herab, als hätte jemand sie losgetreten. Jemand, der dort oben entlangging oder auf dem Weg hinab war.
    »Jascha?«, fragte er laut. »Joana?« Niemand antwortete.
    Aber etwas – oder jemand – keuchte, schnaubte, auf dem Grund der Schlucht jetzt; ganz nah. Jari fuhr herum, umklammerte das Taschenmesser in seiner Jackentasche. Es ist nur ein Igel, dachte er, ein Igel, der in die Schlucht hinabgerutscht ist. Igel keuchen und schnauben wie alte, kurzatmige Männer.
    Natürlich war es kein Igel.
    Lauf, Cizek. Lauf.
    Aber in welche Richtung? Kam das Schnauben und Keuchen eher von rechts oder von links?
    Jari zog das Messer aus der Tasche und klappte es auf, in vollem Bewusstsein, wie unsinnig das war. Er ahnte, was dort schnaubte.
    Sie sucht ihre Jungen. Drei hat sie gehabt, drei sind fortgegangen, sind weggeholt worden, nicht zurückgekehrt. Alle gestohlen, alle verdorben …
    Die Wolken gaben das letzte Licht des Herbstabends für einen Moment frei, und Jari sah sie, schemenhaft. Deutlich genug: die Bärin. Sie stand ihm gegenüber, auf die Hinterbeine aufgerichtet, schnaubend und schwankend. War sie verletzt? Hatte sie sich auf ihrem Weg in die Schlucht eine Wunde zugezogen, die sie jetzt wütend machte? War sie hier hinuntergeschlittert, ohne es zu wollen? Jari sah ihre Augen nicht, es war zu dunkel und zu neblig, doch er wusste, dass ein zorniges Glänzen darin lag. Was er nicht wusste, war, wie schwer verwundet oder wie schnell sie war. Ob er eine Chance hatte, wenn er sich zur Seite wegduckte und rannte. Nein, dachte er. Er würde stolpern zwischen den Steinen des Bachlaufs.
    Wenn er ein Gewehr hätte! Ein Gewehr!
    Er dachte dies alles in der Zeit, die ein Herzschlag dauert. Dann schwappten die Nebel zurück, und die undeutliche Figur der Bärin vor ihm hob eine Pranke. Jari machte einen Satz nach vorn, das Messer in der ausgestreckten Hand. Er reckte sich im Sprung nach der Stelle, an der er den Hals der Bärin vermutete, stieß das Messer mit aller Kraft in ihr Fell, in ihren Körper, sah ihre Pranken rudern. Du bist wahnsinnig, sagte Matti in seinem Kopf. Eine Bärin anzugreifen, zudem eine verletzte.
    Ich töte, antwortete Jari, ebenso lautlos, im gleichen Sekundenbruchteil. Ich bin nicht Jascha und nicht Joana. Ich kann töten, wenn es sein muss. Zerstören, um zu erhalten. Töten, um zu überleben.
    Er hatte einen Schrei erwartet, ein Brüllen, wütend und schmerzverzerrt. Doch die Bärin schrie nicht.
    Der Raum war kahl bis auf den Tisch, auf dem das Telefon stand. Es gab Fenster, doch sie waren von außen mit Planen bedeckt. Unmöglich, herauszufinden, wo das Haus stand.
    »Ihr genau sagt, was hier steht«, sagte der Mann, der

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