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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Schiebetür hinaus. Er folgte ihr wie ein Lamm.
    »Komm«, sagte sie über die Schulter. »Zeit, zu schlafen. Auch für den Jäger.»
    Jari trat hinter ihr zur Tür. Sie ging noch einmal zurück, fuhr mit der Zunge über ihre Finger, um sie anzufeuchten, und löschte damit die Kerzen. Auch das Feuer war bis auf einen Rest herabgebrannt. Sie standen einen Moment im Dunkeln.
    »Wir sollten auf Joana und Jolanda warten«, sagte Jari. »Sitzen sie nicht noch dort …?«
    »Ich bin Joana«, sagte sie. »Jolanda und Jascha sind längst vorausgegangen.»
    Als sie an Jari vorbeiging, streifte ihre Hand sein Haar, es war, als streichle sie einem Kind über den Kopf. Jari blieb einen Moment allein in der Öffnung der Schiebetür stehen. Im Kamin erstarb die letzte Glut.
    »Und hab dir leise auf meine Weise ein Versprechen gemacht«, flüsterte Jari.
    Wer hatte wem ein Versprechen gemacht? Hatte wessen Herz noch gespürt? Hatte das Herz denn aufgehört zu schlagen?
    Er ging langsam die Treppe hinauf. Auf dem Flur im ersten Stock lagen drei Streifen aus Helligkeit, Licht aus drei Räumen. Diesmal war das Licht nicht golden, es erschien Jari rötlich, obwohl das sicherlich Einbildung war. Es war das Licht von Kerzen, flackernd wie in der Nacht, in der Jari die drei Schwestern zusammen beobachtet hatte. Ihm wurde heiß, wenn er daran dachte.
    Er wusste, dass es besser war, weiterzugehen, die nächste Treppe hinauf, sich aufs Bett zu legen, zu schlafen. Der Jäger brauchte seinen Schlaf, im Schlaf wuchs die Konzentration, die notwendig war, um zu zielen, abzudrücken, zu treffen. Er würde ein Tier schießen, um ihnen zu beweisen, dass er es konnte. Einen Vogel vielleicht. Morgen.
    Seine Füße, ungehorsame Wesen, trugen ihn den Flur entlang zur ersten Tür, hinter der das rötliche Licht flackerte, seine Beine knieten sich davor, seine Hände stützten sich am glatten Holz der Tür ab, und sein Auge sah durch das Schlüsselloch wie schon einmal. Doch es war eine andere Tür zu einem anderen Raum. Hinter dieser Tür gab es kein breites Bett und keinen einzigen Spiegel, es war eine kleine Kammer mit nichts darin als einem alten Schaukelstuhl. Das rote Licht stammte von einer dicken, rot ummantelten Kerze, die im offenen Fenster stand. Jaris Mutter hatte im Keller einen Vorrat von solchen Kerzen; jeden Sonntag wanderte sie mit einer von ihnen zum Friedhof und besuchte seine Großeltern dort. Jari erinnerte sich, wie er die Tüten mit den klobigen Kerzen in ihren roten Plastikmänteln stets beiseitegeschoben hatte, wenn er Zwiebeln oder Kartoffeln aus dem Keller geholt hatte. Grablichter.
    Am offenen Fenster, vor dem roten Licht, stand eines der Mädchen. Sie hatte die Arme ausgestreckt, in die Nacht hinaus, und jetzt zog sie sie zurück und schloss mit einer Hand das Fenster. Als sie sich halb umdrehte, sah Jari, dass auf ihrer anderen Hand ein kleiner, unscheinbar grauer Vogel saß. Er öffnete den Schnabel, um zu singen, doch das Mädchen legte den Finger an den Mund. »Still, still«, flüsterte sie. »Still, still, meine Nachtigall.«
    Dann drückte sie den Vogel sacht an ihre linke Brust, die sich unter dem dünnen grauen Nachthemd deutlich abzeichnete. Auf dem Lehnstuhl lag ein weißes Spitzentaschentuch. Sie nahm es, setzte sich und deckte das Tuch über den kleinen Vogel. Eine Weile streichelte sie ihn so, zärtlich, in seinem seltsamen Taufkleid aus weißer Spitze. Dann sank sie im Sessel zurück, schloss die Augen … fuhr plötzlich hoch und schüttelte sich, angestrengt blinzelnd, als müsste sie eine große Müdigkeit abschütteln.
    Ihre weißen Finger hoben das weiße Tuch an und ließen es auf den Boden fallen. Der Vogel darunter regte sich nicht. Und mit einer unerwartet schnellen Bewegung riss das Mädchen ihm eine einzige Feder aus seinem grauen Kleid. Sie betrachtete die Feder – und sah auf.
    Jari duckte sich, kroch seitwärts von der Tür weg und kam auf die Füße. Was hatte er gesehen? Was war dort hinter der Tür geschehen? Es ergab so wenig Sinn wie das Lied.
    Er trat leise zur zweiten Tür, unter der Licht hervorsickerte. Es war wie ein Märchen, wie ein Traum, wie eine Parabel: drei Lichter, drei Türen, drei Schwestern. Das zweite Schlüsselloch war das der Schneiderstube. Vor dem Nähtisch, zwischen den dreimal drei Schneiderpuppen – Kinder, Mädchen und Frauen –, stand jetzt eine große Gestalt. Ein ruhiger Felsen. Branko. Jari sah nur seinen Rücken. Jede der neun Schneiderpuppen hielt eine

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