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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Unsichere, der Passive, der durch Schlüssellöcher sieht und sich dafür schämt. Der immer nur zusieht. Ich bin nicht länger der Machtlose, ich habe Macht, Macht über das Gewehr. Branko … ha … Branko wird sich immer von euch führen lassen, brav wie ein Lamm. Aber Brankos Hände sind zu grob, um das Gewehr zu halten, Brankos Augen zu verschleiert, um zu zielen. Und sind Brankos Hände nicht vielleicht auch für andere Dinge letztendlich zu grob? Es gibt vielleicht Dinge, die der Jäger doch besser könnte, meine Schönen.«
    Er wanderte lange durch den bereiften Wald, Silberwald, Kristallwald, Knisterwald voll ungewohnter Geräusche. In seiner Tasche steckte eine kleine Flasche mit tiefrotem Wein, die er auf dem Küchentisch vorgefunden hatte. Waldwein gegen die Kälte. Und irgendwann zerrann seine eifersüchtige Wut. Und das war gut, denn er brauchte einen klaren Kopf, um ihnen zu beweisen, was er beweisen wollte.
    Unterhalb des klingenden Felsens duckte er sich in ein Frostblättergebüsch und wartete. Dort gab es eine Wiese, auf der er schon früher die jungen Hasen hatte spielen sehen. Er wartete lange, trank einen Schluck, wartete weiter, reglos. Er war ein Jäger, versteinert, um seine Beute zu finden, zu Eis erstarrt.
    Und dann kamen sie, die Hasen.
    Er beobachtete sie eine ganze Weile. Es waren drei. Sie schnupperten an der weißen Winterwelt und wunderten sich, und beinahe lachte er über sie. Er ließ sie spielen.
    Schließlich zog er den Handschuh von seinem Zeigefinger. Legte das Gewehr an, ganz langsam. Kniff ein Auge zu. Zielte. Ich habe noch nie …, dachte er. Drückte ab. Getötet. Doch da stimmte es schon nicht mehr.
    Zwei Hasen sprangen davon, Haken schlagend, panisch. Der dritte lag im überfrorenen Gras auf der Seite. Er zuckte noch einmal mit den Vorderbeinen, dann regte er sich nicht mehr. Jari stand auf, trat aus dem Gebüsch und hob den Hasen hoch. Er war warm. Aus der Wunde an seiner Flanke sickerte dampfendes Blut. In der Büchse befanden sich Kugeln, kein Schrot. Jari fragte sich zum ersten Mal, warum. Nun, die Kugel hatte getroffen. Seine Handschuhe waren voller Blut, dunkle Flecken färbten das helle Leder. Er streifte die Handschuhe ab und ließ sie zu Boden fallen.
    Das Fell des Hasen war erstaunlich weich. Jari zwang sich, eine Hand auf die Wunde zu legen. Die Feuchtigkeit dort zu spüren. Ein Jäger konnte es sich nicht leisten, vor der Berührung von Blut zurückzuschrecken. Die Augen des Hasen starrten blind ins Leere, ein wenig erinnerten sie ihn an Brankos geronnenen Blick.
    »Noch vor zwei Minuten«, flüsterte er, »bist du hier im Gras herumgerannt. Und jetzt kannst du nicht mehr rennen. Nie mehr. Und ich, der Jäger, ich habe das entschieden. Das ist … das ist …« Unglaublich, dachte er. Irrsinnig. Großartig.
    Er hob die Handschuhe auf, steckte sie ein und stieg, das Gewehr über der Schulter, mit dem Hasen den klingenden Felsen hinauf, beinahe rannte er. Erst ganz oben hielt er an, am höchsten Punkt, wo er das Klingen und Singen des Windes in den Steinkanälen deutlich vernahm. Dort atmete er tief durch, und dann hielt er den Körper des Hasen mit beiden Armen über seinen Kopf und schrie.
    »Ich! Bin! Der Jäger!«
    Unter ihm lagen die Wipfel der Bäume wie eine Wolkendecke, über die er aufgestiegen war. Er stand auf dem Dach der Welt. Er hatte Macht über Bewegung und Stille, über Anfang und Ende, über Leben und Tod. Die Euphorie durchströmte ihn wie heiße, blendend helle Lava. Er dachte wieder daran, dass er stets nur anderen gehört hatte: als Sohn, als Lehrling, als Freund, als Ackergaul und Hilfsarbeiter. Jetzt gehörte er sich selbst. Vollkommen. Und mehr noch – die ganze Welt schien ihm zu gehören. Er war jemand. Ein großartiges, mächtiges Ich.
    »Ich! Bin! Der Jäger! Hört ihr das? Hört ihr mich, all ihr Wölfe da unten im Wald? Bärin, hörst du mich? Ihr macht mir keine Angst mehr! Keinem aus dem Haus der Schönheit könnt ihr mehr Angst machen! Wenn der Winter kommt, wenn der Schnee fällt, wenn ihr ums Haus schleicht – dann lernt ihr den Jäger kennen! Sollen sie ihre Mäntel mit eurem Fell füttern! Wolfsfell für Jolanda, Bärenfell für Joana, und für Jascha …« Aber es gab keine dritte Bedrohung, die ihm einfiel. Und sehr leise sagte er nach einer Weile: »Nachtigallenfedern.« Was natürlich Unsinn war.
    Er schloss die Augen und lauschte den melodisch unmelodischen Tönen des Felsens. Der Stein sang für ihn, er

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