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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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rot brennende Kerze zwischen ihren fingerlosen, leicht zurechtbiegbaren Händen. Wie damals im Wald, auf der Lichtung mit den Pilzen und dem Felsen, dachte Jari an einen Altar. Der Nähtisch mitten im Raum war ein Altar. Und Branko war versunken in eine seltsame Art von Gebet, ganz allein.
    Nein.
    Jari krallte seine Finger ineinander. Da saß jemand auf dem Nähtisch, neben der Nähmaschine. Brankos massiger Körper verdeckte die Person beinahe, aber Jari sah ihre blassen, schlanken Beine zu seiner Linken und Rechten. Und ihre Arme. Branko hielt die Person auf dem Nähtisch fest, vielleicht, damit sie nicht fiel, und die Person auf dem Nähtisch hielt Branko fest, vielleicht damit er nicht fiel. Die Beine waren nackt, der Saum des langen grauen Nachthemds, das sie bedeckt hatte, war hochgerutscht, hoch, hoch bis über die Oberschenkel.
    Die Hände der Person auf dem Nähtisch machten sich an Brankos Hemd zu schaffen, und schließlich segelte es zu Boden wie ein unförmiger, übergroßer Nachtfalter. Die roten Grablichter in den Händen der dreimal drei Schneiderpuppen flackerten auf. Die Hände lösten einen Gürtel.
    Brankos bloßer Rücken war bedeckt mit blauen Flecken, Blutergüssen und Schrammen. Nicht alle konnten von seinem Kampf mit der Dunkelheit einer Höhle stammen. Vermutlich geriet er ab und zu in eine Schlägerei in einem der Dörfer; Branko, den manche als einen Mörder fürchteten und viele auslachten. Der sich mit Worten nicht verteidigen konnte und folgte, brav wie ein Lamm. Er hatte in seinem Leben sicher eine Menge Schläge einstecken müssen.
    Jari sah jetzt, wie er sich zu bewegen begann, langsam, sachte, auf und ab, die Hände klammerten sich an ihn. Und wie schon beim Ballett der drei Schwestern auf ihrem nächtlichen Bett sah Jari nicht genau, was geschah, aber er wusste es allzu genau, er hörte Brankos Atem, er sah die Bewegungen rascher werden und wollte nichts mehr sehen.
    Diesmal stand er lange neben der Tür, an die Wand gelehnt, und ballte die Fäuste.
    »Trost«, flüsterte er. »Es ist alles nichts als Trost. Was ist mit mir … brauche ich niemals Trost? Die Starken, die Gesunden, braucht sich um die denn niemand zu kümmern?« Er musste sich zwingen, nicht gegen die Wand zu treten, eifersüchtig und wütend wie ein kleiner Junge. »Ich bin der Jäger … der Jäger …«, wisperte er. »Der euch schützen wird …«
    Es tat weh, an die beiden hinter der Tür zu denken. Er hasste sie. Schließlich riss er sich los von seinem Schmerz und sah durch das letzte Schlüsselloch. Das Zimmer dahinter war leer. Jari legte eine Hand auf die Klinke, und die Tür schwang nach innen auf. Er betrat den kleinen Raum zögernd, als könnte eine Falltür nach unten aufklappen und ihm den Boden unter den Füßen wegreißen. Er ging bis zu der einzigen Sache, die es in dem Zimmer gab: dem Fenster. Es stand offen. Jari legte die Hände um das rote Grablicht auf dem Fensterbrett und sah hinaus in die beginnende Nacht. Dort unten, vor den Bäumen, stand der Hirsch. Sie saß auf seinem Rücken – die Letzte der drei. Aber welcher Name gehörte ihr? Jascha? Joana? Jolanda? Sie presste ihre Schenkel im grauweichen Flanell des Nachthemds an die Flanken des Hirsches und ritt davon, hinein in den undurchschaubar schwarzen Wald. Als hätte sie genug gesehen, durch drei Schlüssellöcher, in drei Räumen. Aber war nicht er es, Jari, der Jäger, der gesehen hatte?
    Er träumte von Matti.
    Matti saß auf der Fensterbank, wo er immer saß, er hielt ein Bier in der Hand, wie er immer ein Bier in der Hand hielt. Sein wirres Haar war so wirr, wie es immer war, und er trug ein kurzärmeliges T-Shirt, damit man die Tätowierung mit dem flammenden Herzen sah.
    »Hey, Jari«, sagte er – und da sah Jari, dass nicht alles so war wie immer. Auf Mattis T-Shirt waren feuchte schwarze Flecken, und etwas verklebte Mattis Wirrhaar. »Hey, Jari.«
    Die Fensterbank, auf der er saß, war nicht die Fensterbank seiner Wohnung über dem Parkplatz. Es war eine Fensterbank im Haus der drei Schwestern. Jetzt sah Jari, dass der Wald hinter Matti ins Bild wucherte. Eine Vase mit Zweigen stand neben ihm, behängt mit roten Hagebutten wie mit Weihnachtsschmuck.
    »Wär wohl ’ne gute Idee, mal das Bett auszuschütteln«, sagte Matti zusammenhanglos. »Meine Mutter hat immer gesagt: Ordnung ist das halbe Leben. Komisch, nach ungefähr ihrem halben Leben hat sie Brustkrebs bekommen und ist gestorben, für die unordentliche

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