Solange die Nachtigall singt
Lebenshälfte hatte sie keine Zeit mehr. Deine Mutter, die seh ich manchmal, wenn ich was einkaufe oder so, die fragt immer nach dir, ob du mal angerufen hättest … Frau Holle lässt es schneien, wenn man die Betten schüttelt, hat meine Mutter gesagt. Marianne, die hat die Bettdecke jeden Tag aus dem Fenster gehängt, obwohl es so kalt war, na, jetzt ist sie weg, da brauch ich nicht mehr zu frieren …«
Er presste die rechte Hand auf einen der Flecken, die sein T-Shirt bedeckten, und Jari sah, wie die dunkle Nässe seine Finger rot färbte. Matti verzog das Gesicht.
»Ich muss jetzt«, sagte er, als wären sie am Telefon. »Mach’s gut …«
Jari fuhr aus dem Schlaf hoch. Es war Morgen. Das helle Licht eines kalten, klaren Tages strömte durchs Fenster herein und spielte in Kringeln und Flecken auf dem Holz des Schreibtisches. Auf der Fensterscheibe wuchs ein Garten aus Eisblumen. Jaris Finger zitterten vor Kälte, als er sich anzog. Oder war es der Traum, der sie zittern ließ? Das Bett ausschütteln … was für eine irre Nachricht.
Er hatte die Hand schon auf die Türklinke gelegt, da drehte er sich noch einmal um, nahm die Decke vom Bett und schüttelte sie. Er schüttelte auch das Kissen. Als er es zurück an seinen Platz legen wollte, sah er, dass dort etwas steckte – in der Ritze zwischen Matratze und Kopfteil des Betts. Ein dritter Brief.
Es klopfte an der Tür, und er zuckte zusammen.
»Jari?«, fragte eines der Mädchen von draußen.
Jari schob den Brief in seine Tasche, ehe er öffnete. »Ja.«
Er wusste nicht, ob es Jascha war, Jolanda oder Joana, die vor ihm stand, doch sie war an diesem Morgen noch schöner als gewöhnlich, so schön, dass ihm die Luft wegblieb. Das Licht, das durch den Garten aus Eisblumen fiel, war anders als sonst, kälter und gleichzeitig heller, gleißender. Es ließ ihre dunklen Augen strahlen und ihre Haut beinahe reinweiß wirken, ihre Lippen röter, die Stickerei auf ihrem Kleid golden und silbern wie das Kleid einer Königin. Glitzerte da Raureif im schwarzen Haar des Mädchens vor ihm?
»Mein Jäger«, sagte sie, »du hast lange geschlafen. Wir werden hinausgehen, um Schlehen zu sammeln. Der Frost war diese Nacht stark genug, um sie reifen zu lassen. Unten in der Küche steht noch das Frühstück. Schließt du die Haustür ab, wenn du gehst?«
Er nickte. Wir sind eine WG, und ich schließe die Haustür ab. »Und Branko?«
»Branko hat seine Sachen eingesammelt und uns verlassen. Er will wieder hinab in die Dörfer. Ich hoffe nur, dass sie ihn nicht einfangen dort unten und ihn irgendwo hinter Mauern sperren, weil sie glauben, man müsste ihn vor der Winterkälte schützen.«
Sie küsste mit den unnatürlich roten Frostlippen ihren Zeigefinger und legte ihn sacht auf Jaris Mund, dann drehte sie sich um und lief leichtfüßig davon, die Treppen hinunter, vielleicht schwebte sie auch, er war nicht ganz sicher.
Er vergaß den Brief.
Er nahm das Gewehr vom Haken an der Garderobe und zog die Lammfelljacke über. In ihren Taschen fand er wollene Handschuhe. Am Zeigefinger der rechten Hand gab es einen Schlitz, um den Finger aus dem Handschuh zu befreien und zu schießen: Handschuhe eines Jägers. Wie war der Mensch gewesen, der sie vor ihm getragen hatte? Der Wünschelrutengänger? Und der davor? Der Wilderer? Welche schwarzen Erinnerungen hatten ihn hinaus zum dunklen Auge gejagt, zum roten Ahorn, nicht länger bewaffnet mit einer Büchse, sondern mit einem Strick?
Jari stellte sich die Mädchen vor, wie sie ihn gefunden hatten, stellte sich vor, wie sie am Rand der Felsen standen und sich an den Händen hielten, vor ihnen der Körper des Mannes an einem Ast, der im Wind hin und her schwang. Wie lange war das her? Wie alt waren sie gewesen?
Seltsam, dachte er, als er in den Wald hinausging, die grünen Stiefel knirschend auf dem überfrorenen Laub. Manchmal dachte er an die Mädchen als Kinder, als Geschöpfe, die zu ihm aufsahen und die es zu beschützen galt. Manchmal dachte er an sie als undurchschaubare Wesen, gefährlich, ihm überlegen, rätselhaft und unergründlich. Uralt, älter als er, älter als die ganze Welt. Und manchmal hasste er sie. Wenn er an das dachte, was er durchs Schlüsselloch gesehen hatte, an Branko im Nähzimmer, mit einer von ihnen, dann hasste er sie.
»Ihr werdet schon sehen«, flüsterte er in das grüne Zwielicht des Waldes. »Ich bin nicht länger der Idiot, mit dem man tun kann, was man will. Der Zurückhaltende, der
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