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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Schritt auf das Lied zu – und vernahm ein leises Rascheln von Federn, das Zurückschnellen eines Astes. Der Vogel musste aufgeflogen sein, doch kurz darauf setzte er sich auf einen anderen Busch, etwas weiter fort. Jari folgte ihm, folgte dem Lied, Schritt um Schritt, Meter um Meter. Sie führt mich, dachte er. Die Nachtigall führt mich durch den Wald. Sie weiß, dass ich verloren bin in dieser Adventsnacht, sie führt mich dorthin, wo es Wärme und Leben gibt.
    Oder nicht? Jascha war geflohen vor dem Lied der Nachtigall, am Abend seiner Ankunft in dieser Geschichte. Und doch hatte sie – oder eines der Mädchen – mit bloßen Händen eine Nachtigall gefangen, um ihr dann eine der grauen Federn zu nehmen. Waren die Nachtigallen Zeichen des Guten oder des Bösen im Nebelwald? Sollte er Angst vor ihnen haben oder ihnen vertrauen?
    Er folgte dem Lied weiter. Er hatte im Grunde keine Wahl. Und der Schnee fiel und fiel und begann, den Waldboden zu bedecken, die toten Blätter zu verbergen, das Schwarze langsam weiß zu malen, bis nichts mehr davon zu sehen war.
    Da waren Lichter, Lichter in Fenstern. Da waren Stimmen.
    Sie sagten seinen Namen: »Jari, Jari.«
    Da waren Hände, die ihn in die Wärme zogen. Augen, die ihn mit Besorgnis musterten, dunkel wie die Nacht und doch ganz an-ders.
    Er lag in einem Bett. Er schlug die Decke zurück, ihm war viel zu heiß. Er zitterte. Wie konnte er gleichzeitig schwitzen und frieren? Eine kühle Hand legte sich auf seine Stirn, wurde weggezogen, ersetzt durch ein feuchtes Tuch, gewisperte Worte erreichten ihn: »Er fiebert. Er war zu lange da draußen im Schnee. Eine Wärmflasche – Wadenwickel.«
    Er versuchte, sich aufzusetzen, wollte protestieren: Ich bin doch kein Kind! Meine Mutter hat mich so behandelt, als ich klein war, damals war ich in den Fluss gefallen, Matti war dabei, er hat meinen Vater geholt … Sein Kopf drohte zu bersten, und er blieb liegen. Schloss die Augen. Schlief. Sein Schlaf währte lange, tagelang. Dreimal träumte er, und einmal erzählten ihm drei Mädchen ihre Geschichte.
    In seinem ersten Fiebertraum sah Jari die Straße, die sich durch den Wald fraß. Die Straße bestand nicht aus Teer. Sie bestand aus Blut. Er wollte darauf gehen, doch seine Stiefel sanken ein wie in einen Sumpf … Als er aufwachte, saß neben seinem Bett Joana, das Kinn in die Hände gestützt, in Gedanken versunken. Er wusste, dass es Joana war, weil sie die Ärmel hochgekrempelt hatte und er die Narbe an ihrem Arm sah. Der Handschuh an ihrer linken Hand bestand aus weichem, rehbraunem Leder.
    »Wenn du ihn ausziehst«, flüsterte Jari, »fehlt an der Hand darunter ein Finger. Oder? Das bist doch du, der der Finger fehlt?«
    Sie lächelte. »Ich ziehe den Handschuh nicht aus.«
    Jari setzte sich halb auf und sah sie an. Ihm war schwindelig, und er fror. Er zog die Decke hinauf bis ans Kinn.
    »Ich bin krank, was?«, sagte er und versuchte zu lachen. »Cizek, der Idiot, ist zu lange da draußen herumgelaufen in der Kälte.« Ein Hustenanfall schüttelte ihn, und er hielt seinen Kopf mit beiden Händen fest, denn mit jedem Hustenstoß schoss ein scharfer Schmerz hindurch.
    »Warum?«, fragte Joana. »Warum bist du so lange da draußen herumgelaufen? Wir konnten dich nicht finden. Du musst weit gegangen sein. Wir haben aufgegeben, als es zu dunkel wurde.«
    »Ist vielleicht eine gute Idee, mich aufzugeben«, murmelte Jari. »Ich war auch schon dabei, das zu tun. Ich weiß nicht einmal, ob ich wirklich hier in diesem Bett liege. Ob du wirklich dort sitzt. Ob du existierst. Oder ob ich mir alles nur einbilde.«
    Sie beugte sich ganz nah zu ihm hinunter und küsste ihn auf den Mund, kurz nur. Ihre Lippen waren warm. »Weißt du jetzt, ob ich existiere?«
    »Nein«, sagte er.
    Sie schüttelte den Kopf, beinahe ärgerlich, beugte sich abermals hinunter und küsste ihn diesmal richtig. Sie schmeckte nach dem Wein, den Jari so oft vor dem Kaminfeuer getrunken hatte, nach Kräutern und nach der Wärme von Kerzen. Er vergaß für Momente seine Kopfschmerzen und den Husten, ihre raue Zunge scheuchte sie fort.
    »Und?«, fragte sie schließlich. »Jetzt?«
    »Es gibt keine Beweise«, flüsterte Jari. »Ich wünschte, dies wäre einer. Ich habe eine Geschichte gehört, da draußen im Wald … von einem Wanderer mit einem Hund. Eine Geschichte, die vor zehn Jahren in den Zeitungen war. Über drei Mädchen, die im Wald …«
    »Verloren gegangen sind?«, fragte sie, sehr leise.
    Jari

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