Solange die Nachtigall singt
sah weg. »Erschossen wurden«, sagte er schroff. Als er sich ihr wieder zuwenden wollte, war der Stuhl an seinem Bett leer.
So schloss er die Augen und träumte einen zweiten Fiebertraum. Diesmal träumte er nicht von der Straße. Er träumte von Branko. Jari folgte seinen Spuren über ein weites Feld aus Schnee.
»Die Briefe«, keuchte er, als er Branko eingeholt hatte, und hustete. »Die Briefe, Branko! Hast du sie geschrieben?«
»Briefe«, wiederholte Branko und betrachtete seine großen, groben Hände, die in löchrigen Wollhandschuhen steckten. »Geschrieben.« Er schüttelte den Kopf. »Branko kann nicht schreiben.«
Er machte eine Bewegung, als wollte er weitergehen, doch Jari hielt ihn am Ärmel zurück. »Warte! Wohin willst du?«
»Die Höhle.« Branko nickte. »Branko schaut, ob Schnee ist. Dort. Schnee über Felsen. Schnee über Blut. Letztes Jahr viel Schnee, Höhle ganz voll Schnee, kein Eingang mehr. Sehr gut. Muss so sein.«
»Was hast du in der Höhle gefunden?«, rief Jari. »Vor zehn Jahren?«
»Zu viel Blut«, sagte Branko und wischte die Handschuhhände an seiner Hose ab. »Branko muss gehen. Damals auch gegangen. Schwer hat getragen. Nicht gut. Im Dorf haben alle gesagt, Branko ist ein Mörder.«
»Bist du das denn?«, fragte Jari. »Bist du ein Mörder, Branko? Tust du nur so, als könntest du nicht richtig sprechen?« Doch diesmal antwortete Branko nicht.
Und Jari schlug abermals die Augen auf. Er warf die Decke fort. Ihm war heiß. An seinem Bett saßen die drei Mädchen. Zuerst dachte er, es wäre nur eine, die sich in den Spiegeln hinter ihr spiegelte. Sie trugen rote Röcke und tiefblaue, leuchtende Seidenhemden voller weißer Stickereien, als hätte es auf die Hemden geschneit. Die Farben, dachte Jari, die Farben haben sich geändert. Jetzt, wo es schneit. Die Farben sind klarer geworden. Es sind nicht mehr die Farben des Herbstwaldes, die sie tragen. Es sind Farben, die vor dem Schnee leuchten, durchdringend und stolz.
»Jari«, flüsterte das Mädchen ganz links. Ihre Stimme war sanft und weich wie der Stoff des eisblauen Wollschals, der um ihre zerbrechlichen Schultern lag. Jascha. »Jari, es ist Zeit für die Wahrheit.«
»Die wahre Geschichte«, wisperte das Mädchen in der Mitte. Sie saß ein wenig aufrechter da, ihre Stimme war ernst und kühl. Jolanda.
»Will der Zeisig sie hören?«, fragte Joana. »Oder zieht er es vor, den Zeitungen zu glauben und fremden Wanderern?«
»Bitte«, sagte Jari heiser. »Erzählt sie mir.«
»Es ist die Geschichte eines Botschafters«, begann Jolanda. »Und seiner drei Töchter.«
»Die drei Töchter waren Drillinge«, sagte Jascha. »Und als sie geboren wurden, starb ihre Mutter. Sie hinterließ ihnen nichts als ihr schwarzes Haar und ihre dunklen Augen.«
»Niemand konnte die Drillinge je auseinanderhalten«, fuhr Joana fort. »Und sie spielten ihr Spiel mit den Leuten, denen sie begegneten. Es war das einzige Spiel, das sie hatten. Sie sahen ihren Vater fast nie. Er war auf Reisen. Er war wichtig. Er war weit weg.«
»Aber sie liebten ihn dennoch«, warf Jascha ein.
»Eine von ihnen liebte ihn bis zum Schluss«, sagte Jolanda. »Die anderen vielleicht nicht. Er holte sie irgendwann nach in das Land, in dem er arbeitete. Und später, als es zu gefährlich wurde dort, schickte er sie wieder zurück. Er besuchte sie selten.«
»Er konnte nicht häufiger kommen«, sagte Jascha.
»Und dann kamen zwei fremde Männer die Mädchen besuchen«, sagte Joana. »Statt ihres Vaters. Die Männer nahmen die drei kleinen Mädchen mit. Sie wollten, dass der Vater der Mädchen ihnen half. Sie dachten, er hätte Macht. Sie dachten, er würde ihnen helfen, den Krieg in ihrem Land zu gewinnen. Sie wollten die drei kleinen Mädchen gegen Waffen tauschen und gegen die Unterstützung der deutschen Regierung. Kleine Mädchen gibt es viele. Regierungen nicht ganz so viele.« Sie lachte ein bitteres Joana-Lachen. »Kleine Mädchen kann man notfalls nachbestellen, wenn sie kaputtgehen. Diplomatische Beziehungen nicht. Das verstanden die drei kleinen Mädchen erst viel, viel später.« Sie strich ihr Haar zurück, und Jari sah aus dem Augenwinkel, dass Jascha und Jolanda eine ähnliche Bewegung machten, in seltsamer Symmetrie.
»Sie waren zwei Jahre bei ihren Entführern«, sagte Jolanda. »Dinge wurden verloren. Hoffnung. Finger. Unschuld. Liebe.«
»Und dann fanden die drei kleinen Mädchen etwas«, flüsterte Jascha. »Ganz unerwartet. In einem
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