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Solange es hell ist

Solange es hell ist

Titel: Solange es hell ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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meine? Hör zu, wenn du deinen gemeinen Plan durchführst, bringe ich mich um. Lieber bringe ich mich um, als dass Cyril hineingezogen und ruiniert wird.«
    Clare blieb unbeeindruckt.
    »Du glaubst mir nicht?«, fragte Vivien keuchend.
    »Selbstmord erfordert eine Menge Courage.«
    Vivien fuhr zurück, als hätte sie ihr einen Schlag versetzt.
    »Du triffst den Nagel auf den Kopf. Ja, ich habe keinen Mumm. Wenn es einen leichten Weg gäbe – «
    »Der leichte Weg liegt direkt vor dir«, sagte Clare. »Du brauchst nur geradewegs den Hang dort hinunterzulaufen. Nach einigen Minuten wäre alles vorbei. Denk an das Kind im vergangenen Jahr.«
    »Ja«, sagte Vivien nachdenklich. »Das wäre leicht – ganz leicht – wenn man es wirklich wollte…«
    Clare lachte.
    Vivien sah sie an.
    »Lass uns noch einmal darüber reden. Begreifst du nicht, dass du, nachdem du so lange geschwiegen hast, kein – kein Recht hast, dich jetzt anders zu besinnen? Ich werde Cyril nicht wiedersehen. Ich werde Gerald eine gute Ehefrau sein – ich schwöre es. Oder ich gehe fort und sehe ihn nie wieder. Was immer du willst. Clare…«
    Clare stand auf.
    »Ich gebe dir den guten Rat«, sagte sie, »es deinem Mann zu sagen. Andernfalls – sage ich es ihm.«
    »Ich verstehe«, sagte Vivien leise. »Aber ich kann nicht zulassen, dass Cyril dafür büßen muss…«
    Sie stand auf, blieb einige Zeit wie sinnend stehen, lief dann leichtfüßig hinunter zum Pfad, aber statt dort anzuhalten, überquerte sie ihn und rannte den Abhang hinunter. Einmal drehte sie sich halb um und winkte Clare fröhlich zu, lief dann weiter, fröhlich und unbeschwert wie ein Kind, und verschwand…
    Clare stand wie versteinert da. Plötzlich hörte sie Schreie, Rufe, laute Stimmen. Dann – Stille.
    Sie ging steifbeinig hinunter zum Pfad. Etwa hundert Meter weiter war eine Gruppe, die den Pfad heraufkam, stehen geblieben. Clare lief zu ihnen.
    »Ja, Miss, da ist jemand über die Steilkante gestürzt. Zwei Männer sind hinuntergegangen, um nachzusehen.«
    Sie wartete. Eine Stunde, eine Ewigkeit – oder nur ein paar Minuten?
    Ein Mann kam mühsam den Hang heraufgeklettert. Es war der Vikar, in Hemdsärmeln. Die Jacke hatte er ausgezogen, um das, was dort unten lag, zuzudecken.
    »Entsetzlich«, sagte er, und sein Gesicht war schneeweiß. »Der Tod muss gnädigerweise sofort eingetreten sein.«
    Er sah Clare und trat zu ihr.
    »Das muss ein furchtbarer Schock für Sie sein. Sie beide haben gewiss einen Spaziergang gemacht, nicht?«
    Clare hörte sich mechanisch Antwort geben.
    Ja. Sie hätten sich eben erst getrennt. Nein, Lady Lee habe sich ganz normal verhalten. Einer aus der Gruppe steuerte die Information bei, dass die Frau gelacht und gewunken habe. Eine höchst gefährliche Stelle – der Pfad müsste dort eigentlich ein Geländer haben.
    Dann erhob sich wieder die Stimme des Vikars.
    »Ein Unfall – ja, eindeutig ein Unfall.«
    Und dann lachte Clare plötzlich – lachte heiser und rau, dass es über den Klippen widerhallte.
    »Das ist eine verdammte Lüge«, sagte sie. »Ich habe sie getötet.«
    Sie spürte, wie jemand ihre Schulter tätschelte, und hörte eine Stimme begütigend sagen:
    »Ist ja gut. Ganz ruhig. Es geht Ihnen bestimmt bald wieder gut.«
     
    Aber es ging Clare nicht bald wieder gut. Es ging ihr nie wieder gut. Sie hielt an ihrer Wahnvorstellung fest – und es musste eine Wahnvorstellung sein, da mindestens acht Personen Augenzeugen des Unfalls gewesen waren –, dass sie Vivien Lee getötet hatte.
    Es ging ihr sehr schlecht, bis Schwester Lauriston ihre Betreuung übernahm. Schwester Lauriston verstand es, mit Geistesgestörten umzugehen.
    »Man muss nur auf die armen Dinger eingehen«, pflegte sie zufrieden zu sagen.
    Und so erzählte sie Clare, dass sie eine Aufseherin aus dem Gefängnis Pentonville sei. Clares Strafe, sagte sie, sei in eine lebenslange Zuchthausstrafe umgewandelt worden. Ein Zimmer wurde als Zelle hergerichtet.
    »Und jetzt werden wir bestimmt glücklich und zufrieden sein«, sagte Schwester Lauriston zum Arzt. »Stumpfe Messer, wenn Sie darauf bestehen, Herr Doktor, aber ich glaube nicht, dass die geringste Selbstmordgefahr besteht. Dazu ist sie nicht der Typ. Zu ichbezogen. Schon komisch, dass ausgerechnet die oft am ehesten die Balance verlieren.«

 
    Nachwort
     
    The Edge erschien erstmals im Februar 1927 in Parson’s Mag a zine mit dem vielsagenden redaktionellen Hinweis, diese Kurzgeschichte sei »unmittelbar vor

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