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Solarstation

Titel: Solarstation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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junge Männerstimme.
    »Raumstation NIPPON, Kommunikationsoperator Sakai«, meldete sich Sakai in geradezu unglaublich gelassenem, geschäftsmäßigem Tonfall. »Miss DeVries bat um einen Rückruf von Kommandant Moriyama.«
    »Einen Moment, ich verbinde.«
    Eine schlichte, klassische Melodie erklang als Pausenzeichen. Khalid bedeutete Moriyama, zum Kommunikationspult zu kommen. Der Kommandant gehorchte mit stumpfen, kraftlosen Bewegungen.
    »Hallo, NIPPON, hören Sie?« meldete sich der junge Mann wieder. »Ich erfahre gerade, daß Dr. DeVries vor zehn Minuten das Haus verlassen hat.«
    »Ist sie unterwegs erreichbar?«
    »Leider nicht.«
    »Wann ist sie wieder zu sprechen?«
    Eine Pause. Der Sekretär konsultierte offenbar einige Terminkalender. »Heute nicht mehr. Morgen ist sie den ganzen Tag außer Haus… Ich fürchte, erst übermorgen wieder. Kann ich ihr etwas ausrichten, wenn sie sich im Büro meldet?«
    Khalid nickte Sakai bedeutungsvoll zu, und der sagte: »Richten Sie ihr einen schönen Gruß von Kommandant Moriyama aus; er wird es übermorgen noch einmal versuchen.«
    »Ich habe es notiert und werde es ausrichten.«
    »Vielen Dank, auf Wiederhören«, schloß Sakai und trennte die Verbindung.
    Khalid kräuselte seine Lippen zu einem bösen, zufriedenen Lächeln. »Wunderbar«, meinte er. »Noch besser, als ich gehofft hatte.« Er sah Moriyama an. »Sehen Sie? Das Schicksal ist auf unserer Seite.«
    Moriyama starrte nur dumpf vor sich hin und sagte nichts. Khalid gab Ralf und Sven einen Wink. »Bringt ihn weg. Und die Frau auch.«
    Als das Schott zischend hinter ihnen zufuhr, sah der Anführer der Piraten mich an, als sehe er mich zum ersten Mal. Dann nahm er ein Blatt Papier aus einer Halteklammer an der Wand. »Sie haben einen Brief bekommen«, erklärte er und überflog den Text auf dem Blatt. Ich hatte nicht wirklich erwartet, daß ihn solche Kleinigkeiten wie das Postgeheimnis oder die Wahrung der Privatsphäre interessierten, aber ich ärgerte mich trotzdem.
    »Leonard Carr«, las er laut vor und sah mich an. »Sind Sie Jude?«
    »Wie bitte?« Was für eine dämliche Frage.
    »Leonard. Das ist ein jüdischer Vorname.«
    Ich schüttelte nur den Kopf. »Meine Mutter war ein Fan von Leonard Cohen, das ist alles.«
    Das schien ihm nichts zu sagen. Er warf mir nur einen irritierten Blick zu und las meinen Brief noch einmal durch. »Wer ist Neil?« wollte er dann wissen.
    Mein Herz machte einen Sprung. Neil! Er hatte es endlich wieder einmal geschafft, durchzukommen! Neil, mein kleiner Neil.
    »Neil ist mein Sohn«, sagte ich. Mein Sohn. Meine eigenen Worte hallten in mir nach, in meiner Erinnerung, in dem weiten, leeren Raum in meinem Herzen. Mein Sohn. Mein Sohn mit den wilden, schwarzen Locken. Mein Sohn mit den großen, dunklen Augen, so tief und unergründlich wie zwei Brunnenschächte, die bis hinüber gebohrt waren in eine andere Welt.
    Erinnerungen und Bilder aus einer lange, lange zurückliegenden Zeit überfluteten mich, und für einen Augenblick war ich nicht mehr hier in der Schwerelosigkeit der Erdumlaufbahn, sondern wieder bei ihm, hielt seine Hand, während er seine ersten Schritte versuchte und tapfer ankämpfte gegen die lebenslange Last der Erdanziehung.
    »Ihr Sohn«, nickte Khalid. »Und wieso kommt der Brief aus Mekka?«
    »Er lebt bei meiner geschiedenen Frau.«
    »Und was macht Ihre geschiedene Frau in Mekka?«
    Für einen Moment fand ich Khalids inquisitorische Fragen reichlich merkwürdig und unverschämt, aber im nächsten Augenblick war es mir wieder völlig gleichgültig. Von mir aus konnte er sich die ganze verdammte Geschichte meines verkorksten Lebens anhören, wenn er auf so etwas stand.
    »Sie ist Araberin. Sie lebt seit unserer Scheidung bei ihren Eltern, die in der Nähe von Mekka eine Druckerei besitzen. Aber sie mußten vor dem Krieg flüchten, nach Mekka eben…«
    Khalid musterte mich argwöhnisch, als glaube er mir kein Wort. »Mekka wird seit einem Jahr belagert. Trotzdem kann Ihr Sohn Ihnen ein Fax schicken?«
    »Er hat ein Faxgerät. Ich habe es ihm vor ein paar Jahren geschenkt. Ein japanisches, wenn Sie es genau wissen wollen. Von Panasonic.« Sein Mißtrauen ärgerte mich. Ich wollte endlich meinen Brief haben. Ich hatte das Gefühl, daß er beschmutzt wurde dadurch, daß Khalid ihn in der Hand hielt und immer wieder durchlas; diesen Brief eines Sohnes an seinen fernen Vater, der ihn absolut nichts anging und der ihm eigentlich absolut gleichgültig hätte sein

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