Soldatenglück - Sedlatzek-Müller, R: Soldatenglück
grob nachempfunden. Das Häuschen, vor dem der Hörsaalleiter an einem einfachen Schreibtisch sitzt und sich zu jedem seiner Schüler Notizen macht, ist von hier oben unsagbar klein. Genauso gut könnte ich mich jetzt von einem Hochhaus stürzen wollen, denke ich. Damit meine Beine nicht gänzlich zu Pudding werden, lasse ich meinen Blick in die Ferne schweifen. Am Horizont sehe ich die Gipfel der Alpen.
Der Ausbilder an der Türluke der simulierten Transall steht mir genauso wie später der Absetzer in der Maschine gegenüber. Er überzeugt sich, dass die Karabinerhaken an den Flachbändern ordentlich in die sogenannte Laufkatze eines Stahlkabels eingehakt sind, das aus dem Turm hinausführt und irgendwo an einem niedriger gelegenen Erdwall in etwa 150Meter Entfernung befestigt ist. Ich muss mich wirklich zusammennehmen, um nochmals in die Tiefe gucken zu können, als ich mich mit den Worten »Gefreiter Müller, Nummer 4. Melde mich zum ersten Sprung!« beim Hörsaalleiter ankündige. Er erscheint mir winzig klein. »Ab!«, erhalte ich als Antwort. Der Ausbilder neben mir gibt mir einen Klaps auf die Schulter. Das Signal, dass ich hinausspringen darf. Darf! Als könnte ich mich kaum noch halten, in der zuvor einige Hundert Mal trocken geübten Haltung weit aus dem Turm hinauszuspringen und unaufhaltsam der Erde entgegenzustürzen. »Hopptausend, zwotausend, dreitausend, viertau…!«, schreie ich aus vollem Hals. Die letzte Silbe wird von einem kräftigen Ruck, der mich nach etwa 5Metern abrupt abbremst und dann wieder ein Stück emporreißt, abgeschnitten. An den Stahlkabeln hängend werde ich auf meiner Fahrt zum Erdwall hin und her gerüttelt. Ich freue mich, den Mut zum Sprung aufgebracht zu haben, und mit dem festen Boden zurück unter den Füßen wirkt das Ganze auf mich wie eine Seilbahn auf einem Kinderspielplatz. Der nächste Absprung kostet mich erheblich weniger Überwindung.
Damit ist der Tag der Wahrheit zum Greifen nahe. »Es gibt Männer und es gibt Nichtspringer!«, habe ich Dutzende Male in meiner Stammeinheit gehört. Ich weiß noch nicht, zu welchen ich gehören werde. Mit jedem Tag und jeder Stunde, die mein erster Fallschirmsprung näher rückt, wächst das Gefühl des Unbehagens. Schließlich ist es so weit. Wir fahren mit einem Shuttlebus etwa eine Stunde zum Flugplatz Penzing bei Landsberg. Dort nehmen wir unseren Fallschirm und den Reserveschirm direkt von der Ladefläche eines Lkw, dem sogenannten Schirmfahrzeug, in Empfang. Im Hangar tun wir uns paarweise zusammen und helfen uns beim Anlegen der Ausrüstung. Ich bin dabei sehr gewissenhaft, in dem Bewusstsein, für die Sicherheit meines Kameraden Verantwortung übernommen zu haben. Die gleiche Sorgfalt erwarte ich von ihm. Mit über den Kopf gestreckten Armen und den Worten »Neuer Mann im Gurtzeug!« melden wir uns anschließend bei einem Absetzer und lassen sein geschultes Auge den richtigen Sitz der Ausrüstung und die Funktionsfähigkeit der Auslösemechanismen überprüfen. Danach setzen wir uns, so gut es in dem straff angelegten Gurtzeug geht, auf den Boden der Halle und warten. Das Warten, so wurde uns gesagt, nimmt den größten Teil des Sprungdienstes in Anspruch. Obwohl ich extra vor dem Anlegen des Fallschirms das Klo aufgesucht habe, drückt mir schon nach Kurzem die Blase. Ich traue mich aber nicht zu gehen, weil ich die Beingurte nochmals lösen und hinterher wieder überprüfen lassen müsste. Ich möchte mir den verärgerten Blick und die höhnischen Bemerkungen sparen, mit denen einen der Absetzer bedenkt, wenn man es nicht schafft, bis nach dem Sprung an sich zu halten.
Als wir auf die abgesenkte Heckklappe des Transportflugzeugs zumarschieren, habe ich das Gefühl, zum Schafott geführt zu werden. Mir wird etwas übel vom Kerosingeruch und der gestauten Wärme im Inneren der Maschine. Paarweise betreten wir die Rampe, mit den Händen auf dem Stahlhelm. Dadurch können die beiden Absetzer sich nochmals vom korrekten Sitz der Sprungausrüstung überzeugen. Schnell füllen sich die Sprungreihen an den Bordwänden und anschließend in der Mittelreihe. Jeweils drei Personen können zusammengequetscht auf einer Klappbank Platz nehmen. Wir sitzen einander zugewandt und unsere Knie stoßen an die Knie der gegenüber sitzenden Person. Die bleichen und starren Gesichter unter den Helmen bestätigen mir, dass ich nicht der Einzige bin, der sich fühlt, als flöge er direkt in sein Verderben. Die Ladeklappe schließt sich und
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