Soldatenglück - Sedlatzek-Müller, R: Soldatenglück
800 Kilometer weit durch Deutschland zu fahren, um ein paar Stunden »bei Mutti« verbringen zu können. Als er nebenbei erwähnt, dass er erst für die Gewässerüberquerungen und den Mutsprung schwimmen gelernt hat, bin ich aufrichtig von ihm beeindruckt.
Lancer gibt mir dann aber doch preis, dass der einzige Moment, bei dem ihm richtig mulmig zumute gewesen ist, der an der 15,6 Meter hohen Staustufe war. Er erzählt mir von Borek, der ein Jahr vor mir beim MND-Zug war und ein hervorragender Schwimmer ist. Er sprang vor Lancer von der Brüstung der Staustufe in die Tiefe. Wie ein Laubblatt wurde Borek von der Strömung an die Betonmauer gedrückt, obwohl er mit aller Kraft dagegen anschwamm. Lancer hörte sein letztes Stündlein schlagen, als er das sah. Mit dem Gedanken »Und wenn es das Letzte ist, was ich tue!« sprang er dann hinab, erzählt er mir. Alles andere sei dagegen ein Leichtes gewesen. Ich solle aber unbedingt viel trinken, schärft er mir nochmals ein, damit es mir nicht so ergeht wie Milano, der auch zum Diensthundezug kommt. Dieser dehydrierte beim EK I während eines Orientierungsmarsches dermaßen, dass er, allein und ganz auf sich gestellt, auf einem Acker zusammenbrach. Erst Stunden später hat man ihn in den Weiten der bayerischen Landschaft gefunden und mit starken Nierenschmerzen und Krämpfen auf die Stube getragen, die er sich mit Lancer teilte. Das Wochenende verbrachte er auf der Intensivstation des örtlichen Krankenhauses, dann trat er am folgenden Montag pünktlich zur Hungerwoche an. Zu diesem Zeitpunkt war bereits die halbe Belegschaft der Stube vom Lehrgang abgelöst und nach Hause geschickt worden.
Milano erzählt mir Monate später seine Erinnerungen an den Einzelkämpferlehrgang. Bereits nach der ersten Woche seien alle wie auf rohen Eiern gegangen. Lancer habe sich wie alle etliche Blasen an die Füße gelaufen. Am Fußballen, zwischen den Zehen, hinten an der Ferse und eine besonders schmerzhafte Blutblase, prall mit Wundwasser gefüllt, unterhalb der Ferse. Lancer und er hätten sich nach dem Ende der zweiten Woche Verbandsmaterial aus dem Sanbereich geholt. Bei dieser Gelegenheit hat Milano beobachtet, wie Lancer sich die Blasen mit einer scharfen Kanüle aufstach und das Wundwasser daraus abfließen ließ. Damit sich der Fuß nicht entzündet, spritzte er sich dann, zum großen Erstaunen Milanos und einer Sanitäterin, Mercuchrom-Jod-Lösung in die Blasen, ohne mit der Wimper zu zucken.
Am Sonntag breche ich direkt nach dem Frühstück auf. Ich nehme Feldwebel Kunz mit. Er ist auch Fallschirmspringer, kommt aber aus einer Pioniereinheit in Wildeshausen und wird als Gruppenführer der Kampfmittelspürhundeabteilung mein künftiger direkter Vorgesetzter sein. Er ist ein sehr umgänglicher Typ und scherzt gerne. Nur unser Musikgeschmack liegt weit auseinander. Da ich nur eine einzige Kassette mit Rapmusik im Auto habe, bittet er mich nach einiger Zeit etwas genervt, das Radio einzuschalten, statt die Musikkassette zum siebten Mal zu wenden. In Altenstadt treffen wir Stabsgefreiten Loch. Auch er ist für den Diensthundezug eingeplant. Zu unserer Enttäuschung kommen wir nicht alle gemeinsam in eine Gruppe. Da unsere praktische Erfahrung uns bereits einen Vorteil verschafft, werden wir auf die zumeist aus Offiziersanwärtern bestehenden Gruppen aufgeteilt. Der Einzelkämpferlehrgang verlangt mir zu meiner Überraschung mehr ab, als ich vom MND gewohnt bin. Es sind nicht die hohen körperlichen Anforderungen oder die militärischen Fähigkeiten, die mir zu schaffen machen. Der ständige Schlafmangel, die rationierte Nahrung, bestehend aus den EPa-Notrationen, und nicht zuletzt der Nikotinentzug setzen mir zu. Der einzige Lichtblick ist der Schlachttag, an dem wir einen Hasen, ein paar Hühner und pro Mann einen selbst gefangenen Fisch töten und zubereiten sollen. Als gelernter Koch werde ich auserkoren, uns eine schmackhafte Suppe aus dem Fleisch und ein paar abgezählten Zwiebeln, Karotten und Kartoffeln zuzubereiten.
Ansonsten quälen wir uns mit knurrendem Magen Tage und Nächte hindurch vom Orientierungslauf zum Nahkampf, vom Eilmarsch zur Gewässerüberquerung, vom militärischen Hinterhalt zum Handstreich und vom Nachtmarsch im Gebirge zum Abseilen von Steilwänden. Verärgert denke ich an Lancers Rede vom »Abenteuerurlaub«. Ich frage mich, wie dieser hagere Kerl den Lehrgang überhaupt überlebt hat. Am Ende wiege ich jedenfalls 8 Kilogramm weniger. Meine für den
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