Soldatenglück - Sedlatzek-Müller, R: Soldatenglück
sich das dann zu einem einzigen Stimmengewirr vermengt. Auch, dass ich viele gewohnte Klänge, zum Beispiel die Stimmen meiner Familienangehörigen, nicht mehr wiedererkennen kann. Mir wird gesagt, dass das nun einmal so sei und ich mich mit der Zeit daran gewöhnen würde. Ebenso an den Tinnitus, einen ständig anhaltenden, alles überlagernden Pfeifton. Mehr als die Infusionstherapie und die blutverdünnenden Medikamente, die ich erhalten habe, lasse sich dagegen nicht tun.
Es sind allerdings noch andere Veränderungen im Gang, von denen ich den Ärzten nichts sage, da ich sie selbst noch nicht einordnen kann. Meine gesamte Wahrnehmung scheint sich verschoben zu haben. Das Wissen, dem Tod um Haaresbreite entronnen zu sein, berauscht mich. Meine Freizeit verbringe ich auf Feiern, im Bodybuildingstudio oder mit meinem Motorrad auf einem Enduroparcours. Ich fühle mich unverwundbar und will das Leben in vollen Zügen inhalieren, bevor es vorbei ist. Dem euphorisierenden Gefühl, überlebt zu haben, gebe ich mich ungezügelt hin. Auf einem Quarterdollar aus New Hampshire finde ich mein Lebensmotto: »Live free or die.« Das bringt mein Lebensgefühl so sehr auf den Punkt, dass ich mir diesen Leitspruch groß über meinen Rücken tätowieren lasse. Ich möchte, dass andere sofort sehen, was mich antreibt.
Der Anblick des sterbenden Mannes, der sich auf dem Trümmerfeld mit seinem Blick an mir festklammerte – er begegnet mir fast jede Nacht und erinnert mich daran, wie schlagartig auch ich jederzeit aus meinem Leben gerissen werden kann. Die längst vergessen geglaubten Erlebnisse aus dem Kosovo kommen hinzu und vermischen sich in meinen Träumen miteinander. Die sterbende alte Frau auf dem Dachboden, ich kann mir bis heute nicht verzeihen, vor Schreck nicht gehandelt zu haben. Ich bäte ihre Familie, der ich sicherlich Kummer und Schrecken bereitet habe, gern um Verzeihung. Auch das tote Mädchen, dessen verwesten Körper ich auf der dreckigen Matratze liegen sah, taucht in meinen Träumen auf. Das Gefühl der Ohnmacht gegenüber all dem Leid, das mich über die letzten Jahre hinweg verfolgt, erdrückt mich und schürt eine unbändige Wut in mir. Ich will frei sein, frei von all dem leben können!
Mein Zugführer ist mir in dieser Zeit eine große Hilfe. Er versichert Kunz, Lancer und mir, dass wir uns immer an ihn wenden können, wenn wir reden wollen. Das nehme ich eher an als die Angebote des Standortpfarrers oder eines Sozialarbeiters. Auch von Psychologen halte ich nicht viel. Es ist für »harte Kerls« von der Truppe irgendwie nicht schicklich, zu einem »Psycho« zu laufen. Stattdessen trinkt man lieber gemeinsam mit den Kameraden eine Flasche Whiskey, um die Welt für gewisse Zeit wieder in Ordnung zu bringen. Meine Hemmschwelle, einen Psychologen aufzusuchen, liegt zu diesem Zeitpunkt noch sehr hoch. Auch wenn es sich um einen Militärpsychologen handelt – ich glaube nicht, dass es jemanden gibt, der nachvollziehen kann, was ich erlebt und gesehen habe. Es wird nicht allzu viele Bundeswehrpsychologen geben, die bereits im Einsatz waren, und selbst diese werden wohl in den seltensten Fällen über traumatisierende Kriegserlebnisse aus eigener Erfahrung verfügen.
Ich will mich nicht irgendeinem Seelenklempner anvertrauen. Das theoretische Wissen ersetzt nicht die Erfahrung. Entsprechend widerwillig nehme ich einen Termin bei Oberfeldarzt Pellnitz wahr, dem Leiter der FU6, einer Abteilung für psychologische Psychotherapie, der mir von meiner Truppenärztin aufgedrückt wurde. Genau genommen allen, die aus meiner Einheit bei dem Unglück dabei waren. Aus Sorge, ausgelacht zu werden, erzähle ich niemandem im Hundezug davon, dass ich im Bundeswehrkrankenhaus bei einem Psychiater vorstellig werden soll. Ich will die Sache möglichst schnell hinter mich bringen. Umso überraschter bin ich, als ich in dem Dienstzimmer des Oberfeldarztes nicht auf einen Weißkittel treffe, sondern auf einen etwas kauzigen Soldaten im Feldanzug, der kurz vor der Pensionierung zu stehen scheint und sich durch nichts mehr aus der Ruhe bringen lässt. Er bietet mir einen Kaffee an, fragt, ob ich mich gestört fühle, wenn er bei unserem Gespräch raucht, und hört sich dann erst einmal mit aller Geduld an, worin meiner Ansicht nach die Probleme liegen, die mich belasten. Es gelingt ihm ganz nebenbei, mir das Gefühl zu geben, dass ich ihm vertrauen kann. Er erzählt mir im Lauf des Gesprächs, dass er während seines Einsatzes in
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