Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
Doch dieses Mal war es etwas anderes.
Solvejg sah elender aus als Eva sich gefühlt hatte, nachdem sie durch den Regen nach Hause gekommen war. Der blassen jungen Frau klebten ihre wirren, kurzen schwarzen Haare regendurchnässt im Gesicht. Sie trug einen schäbigen alten Mantel, der zu weit für sie war, und den sie mit ihren schneeweißen, unterkühlten Fingern krampfhaft geschlossen hielt.
„Komm rein“, sagte Eva besorgt anstatt einer Begrüßung, „deine Lippen sind schon ganz blau!“ Sie griff sanft nach Solvejgs Arm und führte sie in die Wohnung. Die junge Frau ließ die Arme sinken und der Mantel fiel offen an ihr herunter. Das Krankenhausnachthemd, das sie darunter trug, war durchnässt und fleckig, ihre nackten Füße schlammig. Die Regennässe tropfte an Solvejg hinunter auf den Boden. Eva betrachtete sie einen Moment lang. Sie selbst hatte dort gestanden, triefend nass, fröstelnd und sich verloren fühlend, doch für Solvejg musste es nicht nur ein Gefühl sein. Sie war einsam und verloren, und etwas musste sie dazu gebracht haben, sich aus dem Krankenhaus zu schleichen und zu ihr zu kommen. Woher kannte sie überhaupt ihre Adresse?
„Warte, wir sollten dich zu allererst aufwärmen, du siehst halb erfroren aus“, Eva ging wieder in ihr Bad und ließ zum zweiten Mal an diesem Abend heißes Badewasser ein. Die Fenster blendete sie erneut ab und stand dann etwas unschlüssig vor Solvejg, die sich in der ganzen Zeit nicht bewegt und kein Wort gesagt hatte. Die Situation war eigenartig. Sicher, Solvejg war ihre Patientin, aber andererseits war sie fast in Evas Alter, und zudem waren sie nicht in der Klinik. Sie konnte sie nicht einfach wie ein Kind in die Wanne stecken. Oder doch?
„Ich nehme dir den Mantel ab“, bot sie vorsichtig an und war erleichtert, als sich ihre Patientin aus der Starre löste. Eva fiel der muffige Geruch des Mantels auf und hoffte inständig nie zu erfahren, woher Solvejg das Kleidungsstück hatte.
„Ich mache alles schmutzig“, sagte Solvejg schließlich und ihre Stimme klang heiser.
„Mach dir darüber keine Gedanken, ich wische den Boden einmal über, das ist schnell gemacht. Aber du musst dich aufwärmen, sonst wirst du krank.“
„Bin ich nicht deshalb im Krankenhaus?“, entgegnete Solvejg ohne eine Antwort zu erwarten und ging auf Zehenspitzen ins Bad, wo sie das Nachthemd ablegte und langsam in die Wanne stieg.
Eva ließ ihr etwas Raum für sich und holte einen Plastiksack aus der Küche, in den sie Mantel und Nachthemd verpackte. Sie würde Solvejg nach dem Baden etwas von ihrer Kleidung geben, das einigermaßen passte. Alles war besser als die dreckigen, nassen Fetzen Stoff, die sie mitgebracht hatte. Sie nahm sich Zeit auch den Boden zu wischen, bevor sie vorsichtig um die Ecke ins Bad guckte. Solvejg lag im dampfenden Wasser und hatte wieder etwas Farbe bekommen, sofern man bei ihrer natürlichen, fast marmorfarbenen Haut davon sprechen konnte.
„Geht es dir besser?“, erkundigte sich Eva und setzte sich auf einen Stuhl im Bad, den sie normalerweise als Kleiderständer missbrauchte.
„Mir ist wieder warm“, entgegnete Solvejg.
„Warum bist du hier?“
„Das war der einzige Ort, der für mich infrage kam.“
„Verstehe“, log Eva, die mittlerweile gelernt hatte, mit der Kommunikationsweise ihrer Patientin umzugehen. „Und warum kam das Krankenhaus nicht mehr infrage?“
„Weil ich nicht krank bin. Ich habe es genau gehört, von diesem alten Mann.“
„Du meinst Doktor …“, begann Eva den Satz und hoffte, Solvejg würde ihn mit einem Namen beenden, doch das funktioniert nicht bei ihr.
„Ja. Er hat gesagt, ich wäre nicht krank, ich würde nicht ins Krankenhaus gehören. Aber ich will irgendwohin gehören“, zu Evas Erstaunen sah sie Tränen auf Solvejgs Gesicht. „Ich will endlich …“ Sie brach ab. Eva kannte diese Momente. Es waren Gefühlsregungen, die zuvor von den Auswirkungen der Neurohemmer unterdrückt gewesen waren, die nun langsam an die Oberfläche traten. Gefühle, für die Solvejg keine Worte hatte, oder sie nur mit der Zeit mühsam fand. Die Ohnmacht, etwas zu fühlen, mit dem sie nie gelernt hatte umzugehen, und es auf die einzige Art der Kommunikation, die sie beherrschte, nicht äußern zu können, war ein kritischer Punkt.
„Ich verstehe dich“, entgegnete Eva, dieses Mal mit einem großen Anteil Wahrheit. „Wenn du willst, dann kannst du hierher gehören.“
Solvejg wurde augenblicklich ruhig und setzte
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