Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
dem Gedanken, doch daran war weniger die Sorge um Rasmus Schuld als vielmehr der Gedanke, dass ihr Rasmus und Lumière entwischt waren. Sie blieb jedoch nicht lange mit diesen Gedanken alleine. Als Charles Bruchot das Café betrat, erkannte sie ihn sofort. Er war deutlich älter geworden als auf dem Bild, das sie in Sashas Akte gesehen hatte, doch die kräftige Statur, die markante Nase und die buschigen Augenbrauen, die ihm das Auftreten preußischer Kaiser verliehen, waren noch immer unverkennbar. Er ließ sich von der Bedienung zu Sequanas Tisch führen und bedeutete ihr mit einer einfach Geste, sitzen zu bleiben. Diese Geste war natürlich überflüssig, da es Sequana nicht in den Sinn gekommen wäre, sich zu erheben, doch sie hatte den Verdacht, dass Bruchots Gestik für sich selbst sprach und kein Verhalten eines anderen brauchte, das damit korrespondierte.
„Mademoiselle Sequana, nehme ich an?“, begrüßte er sie.
„Danke, dass Sie gekommen sind, Professor Bruchot. Dennoch würde ich es bevorzugen, wenn Sie mich nicht einfach mit dem Vornamen ansprechen würden.“
„Aber, aber …“, Bruchot lachte, „ich mag den Klang Ihres Vornamens. Nennen Sie mich doch bitte Charles.“
„Oh“, Sequana war überrascht, kein Umstand, den sie besonders mochte. „Entschuldigen Sie, in dem Fall …“
„Lassen Sie sich nicht durch den Schein täuschen, Mademoiselle“, entgegnete Bruchot gutmütig, „ich bin ein sehr unkomplizierter Mensch. Ich stamme noch aus einer Zeit, in der man sich an die liberale Gesellschaft des späten 20. Jahrhunderts erinnern konnte.“
„Ich mag Sie jetzt schon“, entgegnete Sequana kalkulierend, „wollen Sie sich etwas zu trinken bestellen?“
„Das habe ich bereits auf dem Weg zu Ihrem Tisch. Aber halten Sie sich nicht mit Höflichkeiten auf, dafür haben wir später noch Zeit. Sie haben konkrete Fragen, sagten Sie?“
„Ich will offen und ehrlich sein, deshalb sage ich Ihnen zuerst, was ich schon weiß“, entgegnete Sequana. Sie wusste nicht, wie viel Bruchot von der ganzen Angelegenheit wusste, oder ob Doignac mit ihm vor seinem Verschwinden gesprochen hatte, aber sie wollte bei ihrer aktuell besten Spur zu Sasha Bréa nicht riskieren, dass Bruchot sich betrogen fühlte.
„Das weiß ich sehr zu schätzen“, entgegnete dieser ohne eine Regung zu zeigen.
„Ich weiß, dass Sie Professor Doignac geholfen haben, mich und … nicht nur mich … vor der Vernichtung im Bois de Boulogne zu retten. Wofür ich Ihnen im Übrigen dankbar bin.“
„Cédric hat es Ihnen erzählt?“ Bruchot verlor für einen Moment seine gutmütige Ruhe.
„Nicht direkt. Er hat vor seinem Verschwinden eine entsprechende Erklärung in seinem Journal für mich freigeschaltet. Ich weiß auch, dass es außer mir drei weitere Klone gab, die gerettet wurden, jedoch kenne ich von diesen nur Ninive.“
„Das stimmt, ihr wart zu viert damals“, entgegnete Bruchot. Er hatte seine Ruhe wiedergewonnen, doch Sequana erkannte die zurückhaltende Vorsicht, mit der er antwortete.
„Ich bin natürlich neugierig, was meine Vergangenheit angeht …“, setzte Sequana erneut an.
„Das wäre nur natürlich. Nur glaube ich Ihnen das nicht, Mademoiselle“, entgegnete Bruchot mit einem Lächeln, „Sie haben ganz konkrete Fragen. Stellen Sie diese, ich werde Ihnen antworten, so gut ich kann.“
„Nun gut“, Sequana nickte. Es war nicht ihr Plan gewesen, Bruchot direkt auf die Vorkommnisse anzusprechen, die zum Tod seiner Tochter geführt hatten, und wollte stattdessen ihm die Gelegenheit geben zu erzählen, was ihm ertragbar erschien. Doch sie hatte keine Probleme, sich auf seinen Vorschlag einzustellen.
„Was ist zwischen Sasha Bréa und Professor Doignac vorgefallen?“ Die Frage zeigte ihre Wirkung. Bruchots Lächelns fror ein, und er lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
„Da Sie ausgerechnet mich danach fragen, gehe ich davon aus, dass Sie über den Unfall Bescheid wissen?“
„Nur das, was über die Nachrichten rausgegangen ist“, entgegnete Sequana, „ein verunglücktes Laborexperiment, bei dem Sasha und Ihre Tochter ums Leben kamen und Professor Doignac schwer verletzt wurde. Was ich jedoch nicht verstehe ist, was dabei schief gelaufen ist, und welche Rolle Sasha darin spielte.“
„Ja sehen Sie, Mademoiselle, das ist keine einfache Sache für mich. Ich versuche, die Erinnerungen an diesen Tag aus meinem Kopf zu kriegen.“
„Das verstehe ich natürlich, Charles, aber Sie wollen
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