Soljanka (German Edition)
vier war Stamm wieder in der Redaktion. Er nahm sich
seinen Textentwurf vor und suchte nach Möglichkeiten, ihn mit Kostedde-Zitaten
anzureichern. Auch nach dem dritten Durchgang fand Stamm keinen Ansatz, aus dem
Material, das ihm der Oberbürgermeister geliefert hatte, einen Knüller zu
brauen, der vor dem Chef vom Dienst bestehen konnte. Es wurde Zeit, Tutschkin
ins Spiel zu bringen.
Stamm machte sich an die Arbeit. Am Ende enthielt der Artikel zwar
reichlich Fragen und Konjunktive, aber der Name war immerhin neu.
Bei der Mipim in Cannes, der weltgrößten
Gewerbeimmobilienmesse, soll Oberbürgermeister Achim Kostedde mit einem
russischen Geschäftsmann namens Victor Tutschkin ins Gespräch gekommen sein.
Ein Vorzeige-Hochhaus wäre in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise genau das
richtige Signal für die nordrhein-westfälische Hauptstadt und
Wirtschaftsmetropole. Die Räder drehen sich weiter, uns kann die Krise nichts
anhaben.
Das Projekt nahm offenbar Fahrt auf, in der
Lokalpresse ist schon vom »Russen-Hochhaus« die Rede. Darauf angesprochen, gibt
sich OB Kostedde
unwissend. Er kenne kein »Russen-Hochhaus«. Auf der Mipim würden viele
Gespräche geführt, aber die letzte Messe habe noch keine konkreten Ergebnisse
gebracht. »Nichts, was spruchreif wäre«, sagte Kostedde.
Die demonstrative Zurückhaltung könnte freilich
auch damit zusammenhängen, dass sich zwischenzeitlich die Kripo für Tutschkin
interessiert. Es geht um Mord. Wie aus Kreisen der Polizei verlautete, gab es
einen Hinweis, dass ein vor wenigen Tagen getöteter Privatdetektiv aus
Düsseldorf den Auftrag hatte, Erkundigungen über Tutschkin einzuholen. Wer der
Auftraggeber war, ist nicht bekannt. Zwischenzeitlich wurde auch das LKA mit seiner Abteilung für
Organisierte Kriminalität in die Ermittlungen einbezogen.
Nachdem Hanne Lohmeyer den Text freigegeben hatte, stellte ihn
Stamm ins Redaktionssystem frei und informierte Perschke. Nach einer
Viertelstunde kam die Rückmeldung.
»Ordentlich, Herr Stamm. Zum wiederholten Mal zeigt sich, dass Sie
eines besonderen Ansporns bedürfen, um gute Leistungen abzuliefern. Ich werde
mich in Zukunft öfter daran erinnern.«
»Danke«, sagte Stamm und bekreuzigte sich.
Aus dem Auto rief er Eva an und fragte, ob er auf dem Heimweg
etwas einkaufen solle. Sie sagte, sie habe Appetit auf ein blutiges Steak, was
aber wegen der Toxoplasmose-Gefahr natürlich nicht in Frage kam. Alternativ
wäre sie auch mit einer Soljanka zufrieden, doch Stamm protestierte
erfolgreich. Sein Gegenvorschlag, Zigeunerschnitzel indische Art, wurde
angenommen. Der Kick bestand darin, die Paprikasoße mit Kurkuma, Fenchelsamen,
Koriander und grüner Currypaste zu veredeln. Dazu gab es ein Glas Buttermilch
gegen die Schärfe, und für Stamm eine Flasche Uerige.
DREIZEHN
Stamm schlief wie ein Stein durch, aber beim ersten
Weckerklingeln um Viertel nach sieben war er sofort hellwach. Er warf sich
einen Morgenmantel über und holte die Zeitung. Im Stehen breitete er sie auf
dem Küchentisch aus, doch die WZ brachte nichts
über die Hochhaus-Affäre. Stamm kochte Tee, zog sich an, trank eine Tasse und
überflog dabei die Artikel. Auf das Frühstück verzichtete er. Es zog ihn in die
Redaktion, um die anderen Blätter durchzusehen. Auf der Friedrichstraße hielt
er an einer Bäckerei und kaufte zwei Käsecroissants.
Die anderen Zeitungen hatte er auch schnell durch. Die Kollegen
der Düsseldorfer Blätter griffen die Online-Berichte der Magazine nicht auf. Stamm
rätselte, ob sie sich die Websites gar nicht ansahen oder noch nicht die Zeit
gehabt hatten, den Neuigkeiten, die Stamm in die Welt gesetzt hatte,
hinterherzurecherchieren. Beides kam ihm unwahrscheinlich vor. Das Internet
setzte die Branche unter einen permanenten Druck, up to date zu sein.
Neuigkeiten mussten raus, und wenn sie noch nicht geprüft waren, sicherte man
sich notfalls mit der Quellenangabe ab.
Es gab noch eine dritte Möglichkeit, und je länger Stamm darüber
nachdachte, desto mehr neigte er ihr zu: eine Art kollektiver, von der
inhaltlichen Position unabhängiger Lokalstolz in einem normalerweise ziemlich
geschlossenen System, der dazu führte, dass Nachrichten von Eindringlingen
ignoriert wurden, solange die Chance bestand, dass sie versandeten, bevor sie
den Mainstream erreicht hatten.
Der Name »Tutschkin« und die Einschaltung des LKA hatten anscheinend noch nicht die erforderliche
Sogkraft. Das konnte sich natürlich jeden Moment ändern.
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