Soljanka (German Edition)
… also wissen S’, weggezogen ist so nicht ganz richtig …«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Stamm nach einer Weile, und als sie
nicht antwortete: »Hören Sie, Frau Juraschek, ich bin etwas beunruhigt, wäre es
vielleicht möglich …?
»Am besten kommen Sie mal hoch«, sagte die Frau und drückte den
Türöffner.
Stamm glaubte einen Augenblick, dass er sich in der Tür vertan habe.
Den von Bauer angekündigten Drachen hatte er sich definitiv nicht so
vorgestellt: schön geschnittenes, schmales Gesicht, kinnlanges dunkelblondes
Haar, ein paar Strähnen, die keck in die Stirn fielen, glatte,
milchkaffeefarbene Haut, recht klein, kaum über eins sechzig, schätzte Stamm,
grazile Figur. Sie lief barfuß, trug eine ausgebleichte, enge Jeans und darüber
eine lässig aufgeknöpfte, ebenso enge schlichte weiße Bluse. Die Frau war
vielleicht Ende dreißig, Stamm hätte sie noch jünger geschätzt, wenn er nicht
gewusst hätte, dass sie schon seit mindestens sieben oder acht Jahren die
Häuser hier verwaltete.
Sie stand in der Tür und musterte ihn, während er die Treppe
heraufkam. Als er vor ihr stand, sagte sie: »Ich hatte Sie mir älter
vorgestellt.«
»Ach so, ja«, lächelte Stamm. »Schulfreunde waren wir tatsächlich
nicht. Ulrich Dembski und ich haben so um die Wendezeit herum in Mecklenburg
zusammengearbeitet. Er war eher so eine Art Mentor für mich.«
»Soso«, machte Frau Juraschek, ohne das Lächeln zu erwidern.
Vielleicht war es ihre kurz angebundene Art, die Bauer mit einem Drachen
assoziierte. Stamm war nach dem ersten Eindruck auch nicht sicher, ob er sie
sich bei Verhandlungen auf der Gegenseite wünschen sollte.
»Folgen Sie mir!«, befahl sie, machte auf dem Absatz kehrt und ging
in die Wohnung, ohne sich darum zu kümmern, ob Stamm die Tür hinter sich
schloss.
Sie bewegte sich mit einer Eleganz und Dynamik, die vermutlich auf
hartem körperlichem Training beruhte. Stamm tippte auf Ballett oder Kampfsport.
Stamm folgte ihr in eine blitzblanke Wohnküche von den Ausmaßen eines
Klassenzimmers. Kochinsel in der Mitte mit Induktionsherd und einer
Dunstabzugshaube darüber, die mühelos die Emissionen einer Kokerei geschluckt
hätte. Bodenfliesen und Arbeitsplatte waren aus grau-rosa Granit, die Schränke
und Einbauelektrogeräte an einer fünf Meter langen Wand hatten natürlich Fronten
aus Edelstahl. Dazu kontrastierte ein tischtennisplattengroßer Esstisch aus
knorrigem, wurmzerfressenem, vermutlich hundert Jahre altem Eichenholz mit
Beinen, die auch eine Skischanze gehalten hätten. Noch ein Kontrast: Die Stühle
waren filigrane Freischwinger mit rundgebogenem Stahlrohrrahmen, Sitzfläche und
Lehne aus naturfarbenem Korbgeflecht, acht mutmaßliche Originale von Thonet,
die ein Vermögen gekostet haben mussten. Das Hausverwaltergeschäft in Kitzbühel
musste einträglich sein.
Frau Juraschek stand neben der Küchenzeile. »Kaffee?«, empfing sie
ihn.
»Einen Espresso könnte ich gut vertragen«, sagte Stamm.
Sie holte schweigend eine Tasse und ein dickwandiges Glas aus einem
Küchenschrank und brühte auf ihrer DeLonghi nacheinander einen Espresso und
einen Latte Macchiato auf.
»Schön haben Sie’s hier«, sagte Stamm.
Er stand mitten im Raum und sah sich anerkennend um. Frau Juraschek
richtete den Kaffee auf dem Tisch an und setzte sich mit einem
untergeschlagenen Bein vor das Fenster, durch das man den obligatorischen Blick
auf die Berge hatte.
»Bitte«, sagte sie und forderte Stamm mit einer Geste auf, sich ihr
gegenüberzusetzen.
Stamm folgte ihrer Einladung, ließ etwas Zucker in sein Tässchen
rieseln und rührte langsam um.
»Sie suchen also nach Ulrich Dembski«, sagte sie.
»Nun ja, was heißt suchen? Das trifft es vielleicht nicht ganz. Ich
wusste ja gar nicht, dass man ihn suchen muss. Ich wollte ihn be suchen. Was ist mit ihm?«
Sie schürzte die Lippen und fixierte ihn eine ganze Weile mit
unergründlichem Blick. Vielleicht konnte ihn Stamm aber auch deshalb nicht
ergründen, weil er Frau Jurascheks Mienenspiel vor dem grellen Gegenlicht der
Morgensonne, die durch das Fenster schien, kaum erkennen konnte.
»Dembski ist tot«, sagte sie schließlich.
Stamm nickte langsam vor sich hin. »Ich hab’s befürchtet nach dem,
wie Sie vorhin reagiert haben. Was ist passiert?«
»Eine Bergbahn ist verunglückt und verbrannt, und Dembski hat es
nicht herausgeschafft.«
Stamm setzte sich abrupt auf. »Meinen Sie etwa Kaprun?«
Frau Juraschek nickte.
»Aber …
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