Soljanka (German Edition)
beugten sich über mich und
hatten meine Beine losgebunden, sie zerrten an mir herum, ich dachte, sie
würden mich in Stücke reißen. Dann war es plötzlich vorbei. Mein Baby schrie,
ich wollte es in die Arme nehmen, aber ich war ja immer noch festgebunden. Ich
hab sie angefleht, sie sollen mir mein Baby geben, aber sie haben mir nur die
Augen zugebunden. Sie haben mich losgebunden und weggetragen. Sie haben mir die
Hände hinter dem Rücken zusammengebunden und mich irgendwo auf den Boden
geworfen. Ich hörte mein Baby schreien, ich wollte aufspringen und zu ihm
laufen, aber ich konnte mich nicht bewegen.«
Sie konnte offenbar nicht weiterreden. Ihr Oberkörper hatte sich
zusammengekrampft. Sie hatte die Arme fest verschränkt, die Fingernägel in die
Haut gekrallt, und wiegte ihren Körper langsam hin und her. Dr. Terlinden
setzte sich zu ihr und nahm sie sanft in den Arm.
»Sollen wir aufhören?«
Angela Dembski schüttelte vehement den Kopf. »Ich habe noch nichts
vom Großmeister erzählt. Herr Stamm muss wissen, was der Großmeister getan
hat.«
Nach einer längeren Pause wagte Stamm zu fragen: »Was hat der
Großmeister getan?«
»Er hat mein Baby getötet. Er hat es durch meine Hand getötet.«
Stamm erschauerte. »Sie haben mich geholt und zum Altar geführt. Dort haben sie
mir das Tuch von den Augen genommen.« Ihre Stimme zitterte jetzt. Dr. Terlinden
hielt sie fest umklammert. »Mein Baby lag vor mir auf dem Altar«, wimmerte
Angela. »Ich wollte es in den Arm nehmen, aber sie hielten mich fest. Der
Großmeister hielt mir ein Messer hin. Der allmächtige Satan erwartet ein Opfer,
sagte er. Als ich das Messer nicht nehmen wollte, trat er hinter mich und zog
mir die Finger auseinander. Er drückte mir das Messer in die Hand und presste
meine Finger zusammen … und dann … ich … ich konnte mich nicht wehren … er war
einfach zu stark. Ich schloss die Augen … und dann war meine Hand nass … und
klebrig … ich … ich kann mich nicht erinnern, was passiert ist … ich öffnete
die Augen, und alles war rot vor Blut … und mein Baby schwieg … Alles war so
still …«
Stamm betrachtete die beiden Frauen regungslos, atmete konzentriert
aus, um die Stille im Raum nicht zu stören. Angela war in Dr. Terlindens
Armen zusammengesackt.
Nach einer langer Pause sagte sie tonlos: »Ich habe versucht, mir
die Kehle durchzuschneiden, aber nicht einmal das haben sie zugelassen. Der
Großmeister hat meine Hand festgehalten, bevor das Messer tief genug in meinen
Hals dringen konnte. ›Satan braucht dich noch‹, hat er gesagt. Danach muss ich
das Bewusstsein verloren haben. Als ich wieder aufwachte, lag ich in meinem
Bett mit einem Verband um den Hals. Sie sagten mir, ich wäre mit dem Fahrrad in
einen Stacheldrahtzaun gestürzt.«
»Wer?«, fragte Stamm.
Angela drehte den Kopf und sah ihn verständnislos an.
»Wer hat Ihnen das gesagt?«
Ein sarkastisches Lächeln bildete sich in ihrem Gesicht. »Meine
Mutter.«
»Schwere Kost«, sagte Stamm, nachdem Dr. Terlinden die Tür
zu ihrem Büro hinter ihnen geschlossen hatte.
»Ja.«
»Glauben Sie, dass sich das so abgespielt hat?«
Die Ärztin legte die Stirn in Falten. »Was meinen Sie?«
»Na ja, die ganze Geschichte.«
»Was lässt Sie zweifeln?«
»Hm, zweifeln ist vielleicht zu viel gesagt. Ich will das nicht in
Zweifel ziehen. Es klang nur so … so rund irgendwie. Ich weiß nicht, wie ich
mich ausdrücken soll, es gab so wenig Brüche.«
Dr. Terlinden ließ seine Worte eine Weile sacken. »Ja«, sagte
sie schließlich, »ich glaube, ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Mir fällt das
gar nicht mehr auf, weil ich den Hergang der Ereignisse schon recht genau
kenne. Fanden Sie, es klang einstudiert?«
»Ein bisschen schon.«
»Nun, das ist auch nicht ganz falsch. Es ist tatsächlich so, dass
Angelas Schilderung der Ereignisse mit der Zeit eine gewisse Struktur bekommen
hat. Aber sehen Sie, das kann gar nicht ausbleiben. Sie hat es ein paarmal
erzählt, und mit jedem Mal verfestigte sich der Ablauf. Ich kann Ihnen aber
bestätigen, dass es keine inhaltlichen Änderungen gibt.«
Stamm legte den Kopf in den Nacken und starrte eine Weile zur Decke.
»Was werden Sie tun?«, fragte die Ärztin.
»Ich weiß es nicht«, murmelte Stamm. »Hängt vermutlich davon ab, was
ich noch über Dembski herausfinde.« Er stand auf. »Ich werde ein paar Nächte
darüber schlafen.«
Sie gaben sich die Hand. An der Tür drehte sich Stamm noch einmal
um.
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