Soljanka (German Edition)
dass die Zitate
möglichst authentisch sind.«
»Wieso nicht?«, sagte die Ärztin. »Wenn Angela einverstanden ist.«
Während sie weitergingen, fügte sie hinzu: »Ist vielleicht sogar besser so.
Wenn Sie sieht, wie Sie sich Notizen machen, würde sie das vermutlich
irritieren.«
Sie klopfte kurz an die Tür und ging hinein, ohne eine Antwort
abzuwarten. Stamm folgte ihr langsam. Er war überrascht. Hatte Dr. Terlinden
nicht gesagt, Angela sei zweiunddreißig?
Die Frau, die im Schneidersitz auf dem Bett saß und ihnen
entgegenblickte, sah aus wie ein Teenager, zierlich, keine Falte im Gesicht und
darin ein Ausdruck tiefer Reinheit. Kein höfliches Lächeln, kein neugieriger
oder prüfender Blick, schon gar kein Chargieren in irgendeine Richtung. Nur ein
unerschütterlicher Ernst, nicht schwermütig, unberührt von den Alltagssorgen
der Erwachsenenwelt, gänzlich aus sich selbst gespeist.
»Hallo, Angela, das hier ist Herr Stamm vom Magazin«, sagte Dr.
Terlinden. »Er hat diesen Artikel geschrieben, auf den du mich aufmerksam
gemacht hast.«
»Hallo«, sagte Stamm. Er trat vor und streckte ihr die Hand
entgegen.
Angela Dembski nahm sie und strich sich gleichzeitig mit der linken
Hand eine dunkelblonde Strähne aus den Augen, alles ohne Stamm anzusehen. Er
blickte sich um auf der Suche nach einem Platz zum Sitzen. Der kleine Raum
wirkte unpersönlich wie jedes Krankenhauszimmer, aber der ockerfarbene
Wandanstrich nahm ihm die typische Sterilität. Neben dem Fenster stand ein
kleiner Tisch mit zwei Stühlen.
Stamm zog sich zurück und setzte sich. Dr. Silvia Terlinden
nahm den anderen Stuhl und platzierte ihn so neben das Bett, dass sie Angela
Dembskis Gesicht sehen konnte.
»Angela, Herr Stamm ist hergekommen, um deine Geschichte zu hören«,
begann die Ärztin. »Er hat dafür eine ziemlich lange Reise gemacht, und damit
er sich später besser an sie erinnert, möchte er sie aufnehmen. Meinst du, das
können wir machen?«
Angela Dembski nickte, ohne die Augen von der Tür zum Badezimmer
abzuwenden, die sie fixierte, seit die Ärztin und Stamm hereingekommen waren.
Die Ärztin nickte Stamm zu, der das Diktiergerät auf Aufnahme schaltete und auf
den Tisch legte.
Dr. Terlinden wartete noch ein paar Sekunden, dann fragte sie
sachlich: »Was ist in der Opfernacht geschehen?«
Angela starrte unbeweglich in dieselbe Richtung. Eine Minute
verging, noch eine, die Stille knisterte. Plötzlich erfüllte ein Krächzen den Raum.
»Sie haben mich ausgezogen«, sagte Angela.
Stamm zuckte leicht zusammen. Angela saß von ihm abgewandt und immer
noch wie eine Statue. Er konnte ihre Lippenbewegungen nicht sehen. Die Stimme
klang heiser, tonlos, wie aus einem Automaten.
»Dann musste ich das Opfergewand anziehen, ganz weiß. Sie haben mich
in die Kirche gebracht, in die heilige Opferstätte. Es war dunkel. Und kalt,
aber das hat gutgetan. Mir war so warm. Ich habe geschwitzt, ich habe so
geschwitzt, weil es mir so wehgetan hat. Ich habe geschrien vor Schmerzen, aber
sie haben mir befohlen, still zu sein. Sie haben mir etwas in den Mund
gestopft, einen Schwamm, ich sollte draufbeißen … Ich bin fast erstickt, ich
hab mich losgerissen und wollte weglaufen, aber sie haben mich wieder
zurückgezerrt und festgebunden … auf dem Altar.«
Stamm beugte sich angespannt vor, aber das Rascheln seiner Jacke und
ein rascher, warnender Seitenblick von Dr. Terlinden brachten ihn dazu,
seinen Bewegungsdrang im Zaum zu halten. Angela hatte offenbar nichts
mitbekommen, immer noch starrte sie die Badezimmertür an, aber unabhängig davon
war sie verstummt.
»Was passierte dann?«, fragte Dr. Terlinden sanft.
»Sie haben um mich herumgestanden und haben mich angestarrt. Ich
habe sie angeschrien, hab gebettelt, dass sie mir helfen sollen, aber immer
haben sie mich nur durch diese Augenschlitze in ihren Kapuzen angestarrt. Einer
hat mir ein Stück Holz zwischen die Zähne gesteckt, aber ich hab es sofort
zerbissen. Ich wollte ihm die Augen auskratzen, aber meine Hände waren
festgebunden. Dann bin ich eingeschlafen … Ich wollte es nicht, ich musste doch
mein Baby zur Welt bringen, aber ich konnte mich nicht wehren.«
Sie erzählte monoton, mit hohler Stimme, aber erstaunlich
zusammenhängend, so als habe sie es schon ein paarmal getan. Stamm hatte den
Eindruck, dass ihre Geschichte mit jedem Mal mehr Struktur bekommen hatte. Er
war dankbar dafür, es war auch so schwer erträglich.
»Die Schmerzen weckten mich wieder. Sie
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