Soljanka (German Edition)
mutmaßlichen Tatzeit mit ein paar Freunden
zusammen war. Das stellte sich aber als falsch heraus. Damit rückte er auf der
Verdächtigenliste natürlich weit nach vorn. Aber viel weiter sind wir nicht
gekommen. In den Vernehmungen hat er die Tat vehement bestritten.«
März umfasste seine Tasse und drehte sie langsam in den Händen. Dann
trank er einen Schluck. »Ja, und dann wurde er an einer alten Eiche im
Nationalpark gefunden. Und in seinem Jugendzimmer im Haus seiner Eltern lag ein
Abschiedsbrief. Mit der Handschrift des Jungen.«
»Und damit war der Fall abgeschlossen«, sagte Stamm.
»Wir hatten gar keine Wahl. Es gab zwei Verdächtige, aber gegen
keinen irgendeinen handfesten Beweis. Da bringt sich einer um und hinterlässt
ein Geständnis. Mit welcher Begründung sollten wir denn noch weiter ermitteln?«
»Haben Sie denn untersucht, ob es wirklich Selbstmord war?«
»Natürlich. Das ist Routine. Wir haben nichts gefunden, was auf
Fremdverschulden deutet. Wenn es Mord war, dann ist er perfekt ausgeführt
worden.«
Es entstand eine längere Pause. Stamm unterbrach schließlich die
Stille. »Und dennoch glauben Sie nicht an diese Version. Habe ich Sie da
richtig verstanden?«
März schürzte die Lippen. »Gegen alle Vernunft. Mein Gefühl sagt
mir, dass es nicht so war. Sehen Sie, dieser Rico Fenten – auch wenn er bei
seinem Alibi gelogen hat, aber das war … ich weiß nicht, wie ich mich
ausdrücken soll … das war einfach ein anständiger Junge. Kein Vergewaltiger.
Sein Vater war Pfarrer, die Mutter Ärztin, Regimekritiker, die es in der DDR nicht leicht hatten. Auf Dembski logischerweise
nicht gut zu sprechen. Das war übrigens eine der Fragen, die ich mir noch
jahrelang gestellt habe: Warum hat Rico Fenten gelogen, als wir ihn gefragt
haben, was er an dem Abend gemacht hat? Wie gesagt, ich persönlich glaube
nicht, dass er Angela Dembski vergewaltigt hat. Aber was hat er dann gemacht?«
»Was, glauben Sie, ist wirklich passiert?«, fragte Stamm.
März sah ihn nachdenklich an. »Das werde ich Ihnen sagen, aber ich
muss darauf bestehen, dass kein Wort davon in einem Artikel erscheinen wird.
Nicht, bevor Sie handfeste Beweise zutage fördern.«
»Das ist verständlich. Im Übrigen bin ich aber ziemlich sicher, was
Sie mir sagen werden. Ich meine, die Schlussfolgerung liegt doch klar auf der
Hand.«
März legte wieder sein kaum merkliches Lächeln auf. »Dann können Sie
die Geschichte ja zu Ende führen.«
Stamm zuckte die Schultern. »Für mich sieht es so aus, als sei
Dembski wegen der Verdächtigungen gegen van Wateren nervös geworden. Immerhin
befand er sich mit ihm ja mitten in diesem Rindermast-Ding. Er sorgt also über
Müller dafür, dass ein zweiter Verdächtiger ins Spiel kommt. Dieser tut ihm
auch noch – aus welchen Gründen auch immer – den Gefallen, sich weiter in die
Scheiße zu reiten, und bevor er da wieder rauskann, macht Dembski den Sack zu.
Er bringt Rico Fenten um, lässt es wie einen Selbstmord erscheinen und fälscht
auch noch einen Abschiedsbrief. Für einen erfahrenen Geheimdienstler wie ihn
dürfte das kein ernsthaftes Problem gewesen sein. Damit wird der Fall zu den
Akten gelegt, und er kann mit van Wateren in Ruhe sein Millionending drehen.«
»Ja«, sagte März knapp. »Ungefähr so habe ich mir das auch
vorgestellt. Jedenfalls im Nachhinein. Damals wussten wir ja noch nichts von
den Rindermast-Aktivitäten. Van Wateren war für uns einfach ein Aufbauhelfer
aus dem Westen. Aber bevor Sie sich allzu sehr auf diese Version versteifen,
möchte ich Ihnen ein paar offene Fragen zu bedenken geben, die mich ebenfalls
noch lange nicht losgelassen haben. Im Grunde beschäftigen sie mich noch heute.
Die erste ist: Wie kann ein Vater so skrupellos sein, dass er den Vergewaltiger
seiner Tochter schützt und mit ihm weiter Geschäfte macht? Nun gut, das könnte
man vielleicht mit der ganz eigenen Persönlichkeitsstruktur eines Mannes wie
Dembski beantworten. Skrupellosigkeit war ja wohl seine hervorstechendste
Eigenschaft. Eine weitere Frage betrifft van Wateren. Er war noch ein paar
Wochen hier nach dem Ende der Ermittlungen, aber nicht bis zum Ende des
Mastgeschäftes. Eines Tages war er weg, zurück in den Westen, er kam übrigens
aus Ihrer Gegend.«
Stamm nickte. »Frau Dembski sagte, dass irgendwann ein anderer
Jurist aus Düsseldorf auftauchte, der die Sache zu Ende gebracht hat.«
»Da stellt sich für mich auch die Frage nach dem Warum. Van Wateren
war
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