Soljanka (German Edition)
sich schon einige Senioren zu
einem frühen Kaffeetrinken versammelt. Die beiden Frauen ließen das Schloss
rechts liegen und gingen weiter in Richtung Ruhr. Am Wassermuseum vorbei
schlenderten sie auf einem Schotterweg in Richtung Osten. Fahrradwegweisern
entnahm Stamm, dass hier der Ruhrtalradweg in Richtung Mülheim-Mitte verlief.
Der Weg mündete nach wenigen Hundert Metern in eine hölzerne Rampe, die zu
einer Fußgängerbrücke über die Ruhr führte. Die Frauen gingen langsamer, die
alte Frau Müller war offenbar nicht mehr so gut zu Fuß.
Als Stamm das Ende der Rampe erreichte, wo man nach rechts auf die
Brücke abbog, sah er, dass die Frauen auf der Mitte der Brücke über dem Fluss
stehen geblieben waren. Sie genossen eine Aussicht, die dazu angetan war, alle
in entfernten Teilen der Republik immer noch herrschenden Vorurteile über das
Ruhrgebiet zu widerlegen.
Auf der von Bäumen gesäumten Wasserfläche schwammen Stockenten und
Haubentaucher. Auf einigen Eisflächen in Ufernähe hatten es sich ein paar
Eiderenten gemütlich gemacht, die in harten Wintern vor den arktischen
Temperaturen des Nordens gelegentlich bis zur Ruhr flüchteten. So weit die
westliche Seite. Links konnte man in einiger Entfernung die Skyline von Mülheim
erkennen, drei etwa zehnstöckige, trostlose Wohnblocks, die jeder
Plattenbausiedlung im Osten Deutschlands zur Ehre gereicht hätten. Die Moderne
hatte in den sechziger Jahren auch Mülheim an der Ruhr nicht verschont.
Stamm gab sich einen Ruck und schlenderte die Brücke hinauf. Vor den
beiden Frauen blieb er stehen und stützte sich mit dem rechten Ellenbogen auf
die Brüstung der Brücke.
»Wunderschön, nicht«, sagte er, indem er den Blick in die Ferne
schweifen ließ, um sich dann mit einem Lächeln den Frauen zuzuwenden.
»Ja«, sagte die jüngere ein wenig widerwillig.
»Erinnert fast ein wenig an die Müritz, oder?«
Stamm sah die Frauen weiter freundlich an. In den Augen der älteren
meinte er einen Anflug von Ängstlichkeit zu erkennen, während der Blick der
jüngeren einen herausfordernden Zug bekam.
»Na ja, um ehrlich zu sein«, fuhr Stamm fort, »ist die Müritz doch
noch um einiges schöner. Ich bin gerade aus Waren zurückgekehrt. Der See ist
ziemlich vereist. Am Ufer türmen sich die Schollen. Ein toller Anblick.«
»Was soll das hier werden, wenn’s fertig ist?«, fragte die jüngere
Frau mit aggressivem Unterton.
»Entschuldigen Sie«, erwiderte Stamm. »Sie haben völlig recht, ich
bin ziemlich unhöflich. Ich wollte Sie auch wirklich nicht so überfallartig
ansprechen. Aber gerade als ich mich Ihrem Haus näherte, sah ich Sie
herauskommen. Mein Name ist Hans Stamm. Ich bin Journalist beim Magazin. Ich
arbeite zurzeit an einer Geschichte zur Aufbereitung der Wiedervereinigung am
Beispiel von Waren. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir dabei ein wenig
behilflich sein … Sie werden sich vielleicht ein wenig wundern, wieso ich mich
gerade an Sie wende.«
»In der Tat«, sagte die jüngere Frau.
»Nun, das ist an sich keine allzu geheimnisvolle Sache. Ich bin auch
an Zeitzeugen interessiert, die Waren nach der Vereinigung in Richtung Westen
verlassen haben. Und bei meinen Gesprächen in Waren sind Sie mir genannt
worden. Sie sind doch Frau Rehberger, oder? Und Sie«, er wandte sich der alten
Frau zu, »sind sicherlich Frau Müller.« Die Frauen sahen ihn nur an, ohne etwas
zu sagen. »Um ehrlich zu sein«, fuhr Stamm fort, indem er die ältere Frau ins
Visier nahm, »bin ich in erster Linie auf der Suche nach Ihrem Mann.«
Nun stand der alten Frau die nackte Angst ins Gesicht geschrieben.
Auch Frau Rehberger konnte ihre wachsende Unsicherheit nicht verbergen.
»Mein Vater ist tot«, murmelte sie.
»Oh, das tut mir leid.«
Frau Rehberger raffte ihre Entschlossenheit zusammen. »Muss es
nicht. Es ist lange her, dass er gestorben ist. Tut mir leid, dass wir Ihnen
nicht helfen können. Und jetzt entschuldigen Sie uns.«
Sie stand auf und zog ihre Mutter am Ellenbogen hoch. So schnell die
alte Frau konnte, gingen sie den Weg, den sie gekommen waren, zurück. Stamm
hatte keine Mühe, sie mit wenigen Schritten einzuholen.
»Ein schönes Haus haben Sie da«, plauderte er. »Und lebhafte Kinder,
soweit ich das sehen konnte. Geordnete Verhältnisse, wie man so sagt. Haben Sie
eigentlich noch Kontakt zur Heimat? Oder zu ehemaligen Mitbürgern aus Waren?«
Frau Rehberger zog ihre Mutter hinter sich her. Die alte Frau warf
Stamm einen scheuen Seitenblick
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