Soljanka (German Edition)
zu.
»Ich frage mich zum Beispiel, ob Sie wohl wissen, wie es Angela
Dembski in den letzten Jahren ergangen ist. Sie kennen Angela Dembski doch,
oder?« Er wartete pro forma ein paar Sekunden und fuhr dann fort, als keine
Antwort kam. »Ich habe sie in der psychiatrischen Klinik in Waren
kennengelernt. Traurig. Die Geister der Vergangenheit. Sie kann sich einfach
nicht von ihnen lösen. Ihr Geist dämmert dahin in einer eigenen Welt. Die
Erinnerungen an das Schreckliche, was ihr passiert ist, quälen sie
unaufhörlich. Und das Schlimmste ist, dass sie wohl selbst nicht weiß, ob diese
Erinnerungen wahr sind. Deshalb kann sie die Vergangenheit auch nicht
verarbeiten. Es ist wirklich erschütternd, wenn man sie so sieht. Glauben Sie
nicht, dass Angela ein Recht hat zu erfahren, was damals mit ihr passiert ist?
Ich will ihr dabei helfen.«
Die alte Frau schüttelte den Arm ihrer Tochter ab und blieb schwer
atmend am Fuß der Brückenrampe stehen. Ihr Gesichtsausdruck schwankte zwischen
Trotz, Furcht und Mitleid, soweit Stamm das von der Seite sehen konnte.
»Ich weiß nicht, was damals mit Angela Dembski passiert ist«, sagte
sie tonlos.
»Hat Ihr Mann denn nie mit Ihnen darüber geredet?«, fragte Stamm.
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich wollte es auch nicht wissen.«
»Aber Sie wissen, dass Ihr Mann damals eine Aussage bei der Polizei
gemacht hat. Eine entscheidende und folgenreiche Aussage.«
Sie nickte bekümmert. Ihre Tochter machte Anstalten, sich wieder bei
ihr einzuhaken, aber dann ließ sie ihre Hand sinken, halb resigniert, halb
neugierig.
»Glauben Sie, dass diese Aussage stimmte?«, fragte Stamm.
»Natürlich habe ich geglaubt, dass sie stimmt. Der Fall war danach
doch geklärt, soweit ich weiß. Der … Täter hat sich doch nachher umgebracht.«
Stamm ließ das zunächst so stehen. Stattdessen fragte er: »Warum ist
Ihr Mann eigentlich kurz danach so plötzlich aus Waren weggegangen?«
Als sie nicht antwortete, hakte er nach. »Aus Angst?«
»Angst?«, rief sie.
Es klang wie ein Reflex. Und ebenso schnell sackte die Aufwallung
von Protest in sich zusammen. »Ja, vielleicht war es Angst«, murmelte sie. »Er
hat es nie zugegeben, es hieß immer, im Westen hätten wir bessere Chancen. Aber
wahrscheinlich war es doch eher die Angst. Ich wollte ihn nie danach fragen, er
wollte das nicht hören.«
»Wohin sind Sie eigentlich gegangen? Oder besser gesagt er, Sie sind
ja wohl noch eine Weile in Waren geblieben.«
»Na ja, ich musste ja noch das Haus verkaufen, das hat eine Weile
gedauert. Danach haben wir in Österreich gelebt. In Kitzbühel.«
»Kitzbühel?«, entfuhr es Stamm. »Wie sind Sie denn ausgerechnet
darauf gekommen?«
Die alte Frau sah ihn verunsichert an. »Mein Mann konnte dort als
Versicherungsagent arbeiten. Das hat er nach der Wende schon in Waren gemacht.«
»Und die Geschäfte liefen?« Stamm hatte Mühe, seine Skepsis zu
unterdrücken.
»Wir kamen zurecht. Wir hatten ja auch noch den Erlös vom Haus. Es
waren ein paar schöne Jahre. Ich kannte die Berge ja nicht aus Mecklenburg. Wir
waren weit weg von allem. Es kam mir vor wie Urlaub.«
Die Kräfte schienen sie zu verlassen. Sie hängte sich an den Arm
ihrer Tochter. Diese fasste die Geste als Signal zum Weitergehen auf. Langsam
schritten sie wieder in Richtung Wasserturm. Stamm schlenderte mit.
»Wovor, glauben Sie, hatte Ihr Mann Angst?«, fragte er.
»Ich weiß es wirklich nicht«, krächzte Frau Müller, als habe die
Erinnerung ihr einen Kloß in den Hals gepflanzt.
»Und in Österreich? Hatten Sie den Eindruck, dass er sich dort
wohler fühlte?«
»Aber ja, nach einiger Zeit, als wir nichts mehr aus Waren gehört
hatten, wurde er unbeschwert. Ein paar Jahre. Dann kehrten die Sorgen zurück.«
»Worüber?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht wegen Ulrich Dembski.«
»Dembski?«
Frau Müller war wieder stehen geblieben..
Als sie nicht antwortete, setzte Stamm die Geschichte fort: »Dembski
ist nach Österreich gekommen.« Die alte Frau nickte langsam. »Wie kam es dazu?
Hatte Ihr Mann die ganzen Jahre Kontakt gehalten?«
Frau Müller sah Stamm irritiert an. »Es war doch Dembskis Haus, in
dem wir in Kitzbühel gewohnt haben. Zumindest am Anfang, bis wir etwas eigenes
gefunden hatten.«
»Dembski hatte ein Haus in Kitzbühel? Wie ist er denn daran
gekommen?«
»Das hat vorher dem Staat gehört. Oder eher der KoKo.« Sie lachte
freudlos. »In Kitzbühel hat er wohl viele reiche Westler kennengelernt,
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