Someone like you - Dessen, S: Someone like you
abends ein komplettes traditionelles Dinner vorgesetzt. Marion und Steve/Vlad waren ebenfalls mit von der Partie. Scarlett erzählte mir, Steve/Vlad habe zwar Anzughosen getragen, dazu jedoch seine Lederstiefel, sein Amulett am Lederband und ein Teil, das wohl – um es höflich auszudrü cken – eine Tunika sein sollte.
»Eine was?«, fragte ich.
»Eine Tunika. Ein weites Hemd, das fast bis zu den Knien reicht, mit rundem Ausschnitt, der durch eine Kordel gerafft wird.«
»Aber er hat das Hemd in die Hose gesteckt, oder etwa nicht?«, erkundigte ich mich.
»Nein«, antwortete sie. »Er trug es
über
der Hose. Und |240| Marion zuckte nicht mal mit der Wimper. Ich glaube, sie hat es gar nicht richtig mitgekriegt.«
Ich fand das alles ungeheuer spannend. »Und was hast du dazu gesagt?«
»Was hätte ich denn sagen sollen? Ich bot ihm einen Stuhl und ein paar Nüsse zum Knabbern an. Ich kapiere es nicht, aber Marion ist verrückt nach dem Kerl. Er könnte splitternackt auftauchen – es wäre ihr völlig wurscht.«
Ich lachte. »Ach komm, jetzt übertreibst du aber.«
»Doch, das ist kein Witz.« Sie seufzte. »Trotzdem war es ein netter Abend. Cameron hat auf seine schräge Art dafür gesorgt, dass nie peinliches Schweigen herrschte. Ich bekam jede Menge Komplimente für meinen Kartoffelbrei, von dem ich allerdings selbst keinen Bissen runtergekriegt habe. Mein Rücken bringt mich fast um und seit letzter Woche ist mir wieder dauernd übel. Irgendwo in unserer Küche fault etwas vor sich hin, habe ich dir das schon erzählt?«
»Ja, hast du. Hatte er Klumpen?«
»Was?«
»Der Kartoffelbrei. War er klumpig?«
»Logo«, antwortete sie. »Er schmeckt doch nur, wenn er Klumpen hat.«
»Allerdings«, sagte ich. »Hebst du mir ein Schüssel chen auf?«
»Okay.« Obwohl ihre Stimme in der Leitung ein wenig krächzte, klang sie so beruhigend und aufmunternd wie immer. »Mach ich.«
An diesem verlängerten Thanksgiving-Wochenende lernte ich meine Oma Halley besser kennen als je zuvor. Allerdings nicht bei den paar kurzen Besuchen im Pflegeheim, |241| wenn ich an ihrem Bett saß und ihre Hand hielt. Sie hatte von der Operation immer noch Schmerzen und war ein bisschen durcheinander, nannte mich ziemlich oft Julie, fing an mir irgendwelche wirren Geschichten zu erzählen, die in der Mitte abbrachen, sich wie im Sande verloren. Meine Mutter schwirrte ständig um uns herum, tauchte mal neben, mal hinter mir auf, um die abgebrochenen Sät ze meiner Großmutter zu vollenden. Sie bemühte sich mit aller Kraft darum, dass alles so war wie früher. Schön, in Ordnung, normal.
In meinem Zimmer in Oma Halleys Haus stand eine Kommode aus duftendem Holz, deren Türen mit Rosen bemalt waren. Eines Abends öffnete ich aus lauter Langeweile die Kommode und fand stapelweise Schachteln und Schächtelchen, Fotos, Briefe, ein Sammelsurium von Kram, den meine Großmutter, die einfach
alles
aufbewahrte, nicht hatte wegschmeißen können. Es gab Fotos von ihr als junges Mädchen im schicken Ballkleid inmitten einer Schar anderer Mädchen, die mit ihr in die Kamera lächelten. Meine Großmutter hatte langes dunkles Haar gehabt, das sie in einer kunstvollen Steckfrisur trug, die mit eingeflochtenen Blumen hoch auf ihrem Kopf eine Art Krone bildete. In einer Schachtel entdeckte ich nichts als Tanzkarten; jede Karte war voll, lauter Jungennamen untereinander, und neben jedem Namen ein kleiner Haken. Sie hatte also mit allen getanzt. Ich fand ein Hochzeitsbild von ihr und meinem Großvater; sie posierten, gemeinsam ein Messer in der Hand haltend und bereit zum Anschneiden, vor der Hochzeitstorte. Ich war von all dem völlig gefesselt. Las die Briefe, die sie ihrer Mutter wäh rend ihrer ersten Auslandsreise geschrieben hatte; ganze vier Seiten lang beschrieb sie einen jungen Mann aus Indien, |242| den sie im Park kennen gelernt hatte, gab jedes seiner Worte wieder. Und wie blau der Himmel an dem Tag war. Dann die Briefe späteren Datums, in denen sie über meinen Großvater schrieb und wie sehr sie ihn liebte. Briefe, die nach dem Tod ihrer Mutter zu ihr zurückge kehrt waren, alle noch in ihren abgestempelten Umschlä gen und ordentlich mit einem Band zusammengebunden.
Ich lief nach unten. Meine Mutter saß in Oma Halleys grünem Lieblingssessel am Fenster und trank Tee. Sie hör te mich nicht kommen und zuckte daher ziemlich zusammen, als ich sie an der Schulter berührte.
»Hallo. Du bist noch wach? Es ist schon spät.«
»Ich
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