Someone like you - Dessen, S: Someone like you
habe in Oma Halleys Sachen rumgewühlt.« Ich quetschte mich neben sie auf den Sessel. »Schau mal.« Ich zeigte ihr die Tanzkarte, die ich um mein Handgelenk gebunden hatte; ein weiteres Hochzeitsbild, auf dem das Paar an der Kapelle vorbeitanzte; meine eigene Geburtsanzeige, die Oma Halley achtsam in dem dazugehörigen Briefumschlag aufbewahrt hatte. Stunden waren vergangen, seit ich die Sachen meiner Großmutter gefunden und betrachtet, mich mit ihrem Leben beschäftigt hatte, das da so ordentlich in Schachteln und Umschlägen steckte. Als hätte sie es extra für mich dorthin gelegt. Als sollte ich alles finden und anschauen.
»Kaum zu glauben, wie jung sie damals war!« Meine Mutter hielt das Hochzeitsfoto näher an die Lampe. »Siehst du die Kette um ihren Hals? Die durfte ich auf meiner eigenen Hochzeit auch tragen, als Leihgabe. Du weißt doch, nach einem alten Brauch soll man auf seiner Hochzeit was Blaues, was Neues, was Altes und was Geliehenes bei sich haben.«
»Als sie neunzehn war, hat sie sich in einen Jungen aus |243| Indien verliebt«, erzählte ich. »Sie lernte ihn in einem Londoner Park kennen. Zwei Jahre später schrieb er ihr immer noch.«
»Wirklich?« Sie streichelte mir gedankenverloren übers Haar. »Das hat sie mir nie erzählt.«
»Du kennst doch die Glocke, die auf halber Treppe am Fenster hängt. Als Opa als Soldat in Spanien stationiert war, hat er sie auf dem Flohmarkt gekauft.«
»Ach?«
»Du solltest die Briefe auch mal lesen.« Ich betrachtete meinen eigenen Namen auf der Geburtsanzeige:
Willkom
men
, Halley!
Sie lächelte mich an, als fiele ihr plötzlich die Zeit wieder ein, in der Augenblicke wie dieser zwischen uns unbemerkt verstrichen waren. Weil es so viele davon gab, dass sie selbstverständlich waren.
»Schatz, es tut mir Leid, was neulich Abend im Restaurant vorgefallen ist.« Sie spielte mit meinen Haaren, fasste sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. »Ich weiß, es ist schwer für dich zu begreifen, warum wir nicht zulassen können, dass du dich weiter mit Macon triffst. Aber es geschieht nur zu deinem Besten. Eines Tages wirst du das verstehen.«
»Nein, werde ich nicht.« Die Kluft zwischen uns, die sich vorübergehend geschlossen hatte, tat sich genauso rasch auch wieder auf. Ich sah geradezu vor mir, wie sie sich klaffend öffnete.
Seufzend ließ sie meine Haare los. Sie spürte es ebenfalls. »Es ist schon spät. Möchtest du nicht allmählich ins Bett gehen?«
»Okay.« Ich stand auf, ging zur Treppe. Dabei kam ich an dem gerahmten Titelblatt einer alten Zeitung vorbei, |244| auf dem das Erscheinen des Kometen angekündigt wurde. HALLEY BESUCHT UNS WIEDER EINMAL, stand da in Riesenlettern.
»Ich weiß noch, wie der Komet das letzte Mal von der Erde aus zu sehen war«, sagte ich. Sie stellte sich hinter mich, las über meine Schulter hinweg mit. »Ich saß auf Omas Schoß, wir haben ihn zusammen gesehen.«
»Du warst noch so klein. Viel zu klein, um dich zu erinnern«, meinte sie beiläufig. »Außerdem war es in jener Nacht sehr nebelig. Ich weiß noch, dass du gar nichts gesehen hast.«
Da – wieder einmal war es passiert. Was auch immer ich sagte, sie wischte es mit einer Leichtigkeit weg, einfach weg. Als würden mir nicht einmal meine eigenen Erinnerungen gehören.
Doch ich wusste, dass sie nicht Recht hatte. Ich hatte den Kometen gesehen. Und das wusste ich so gut, wie ich mein eigenes Gesicht, meine eigenen Hände kannte. Mein eigenes Herz.
Am nächsten Morgen fütterten wir den Kater, legten Geld für den Katzensitter auf den Tisch, schlossen das Haus ab und fuhren ein letztes Mal bei Oma Halley vorbei. Im Heim war es wieder still; die Besucher waren abgereist, wollten auf der Straße so viel Vorsprung voreinander rausschinden wie möglich. Auch mein Vater verabschiedete sich ziemlich rasch von meiner Großmutter und ging dann schon mal vor zum Parkplatz, wo er sich wartend neben unser Auto stellte und die Autobahnauffahrt nicht mehr aus den Augen ließ. Dabei zog er schützend den Kopf ein, denn draußen war es sehr windig. Drinnen, hinter den – zum Wohl der Insassen, versteht sich – hermetisch verriegelten |245| Doppelfenstern konnten wir den Wind nicht einmal hören.
Ich ließ mir Zeit. Saß lange an Oma Halleys Bett, hielt ihre Hand. Meine Mutter saß mir gegenüber auf der anderen Seite. Oma Halley war zwar wach und bei Bewusstsein, aber nur so gerade eben. Immer wieder fielen ihr die Augen zu. Die Medikamente machten sie
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