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Someone like you - Dessen, S: Someone like you

Someone like you - Dessen, S: Someone like you

Titel: Someone like you - Dessen, S: Someone like you Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Dessen
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Denn als sie schließlich die Augen öffnete, erkannte sie mich im ersten Moment nicht einmal. Im Gegensatz zu früher war es |237| nicht mehr selbstverständlich, dass sie sofort wusste, wer ich war. Was mir Angst machte, gerade in dieser Zeit. Als hätte ich mich tatsächlich schon in eine andere Halley verwandelt, ein fremdes Mädchen, dessen Gesicht, Stimme, Verhalten nicht mehr als ich erkennbar waren.
    »Aber Mutter, das ist doch Halley.« Meine Mutter stand mir gegenüber auf der anderen Seite des Bettes und sah mich ermutigend an, ein kümmerlicher Ersatz dafür, dass sie in dem Moment nicht meine Schulter drücken und die Situation als besser verkaufen konnte, als sie war.
    Doch plötzlich bemerkte ich, wie das Erkennen über die uralten, zurückhaltenden, beinahe ängstlichen Gesichtszüge meiner Großmutter huschte. Das Erkennen, als sie mich in dem fremden Gesicht, das auf sie runterblickte, wiederfand. »Halley!« Fast klang es, als schimpfte sie mit mir wie mit einer alten Freundin, die ihr einen Streich spielte. »Wie geht es dir, mein Schatz?«
    »Gut. Ich habe dich vermisst.« Ich nahm ihre Hand in meine, schloss meine Finger um ihre. Ihre Hand war so klein, so knochig; ich konnte die Muskeln und Sehnen darin spüren, als sie versuchte meinen sanften Händedruck zu erwidern, mit dem ich ausdrücken und ihr versichern wollte, dass alles gut werden würde.
     
    Wir schauten zu, wie Oma Halley ihr Thanksgiving-Dinner aß: Truthahn und Preiselbeergelee, die ihr inklusive eines Plastik-Füllhorns als Deko auf einem orangefarbenen Plastiktablett serviert wurden.
    In den Fluren des Heims wimmelte es mittlerweile von Familien, die ihre Feiertags-Pilgerfahrt zu Oma und Opa unternahmen. Als ich irgendwann mal an dem Zimmer nebenan vorbeiging, sah ich, dass sich um den |238| Mann mit dem Schlauch und der Maschine eine ganze Gruppe versammelt hatte. Sie gluckten eng zusammen, sprachen mit gedämpften Stimmen. Im Flur davor spielte ein kleines Mädchen in altmodischem Schürzenkleid und Riemchenschuhen Hüpfkästchen. Es roch sogar anders, denn in den penetranten Geruch nach Raumspray hatten sich Hunderte verschiedener Parfums und Haarfestiger gemischt – der Duft der großen weiten Verwandtschaftswelt.
    Am Abend fuhren wir in ein Hotel in der Stadt und zahlten zwanzig Dollar pro Nase für ein Thanksgiving-Buffet: reihenweise dampfende Warmhalteplatten mit Kartoffelbrei und Sauce, Preiselbeerkompott, Kürbispastete. Die festlich gekleideten Gäste aßen zwar an kleinen Tischen, sahen aber trotzdem aus wie eine einzige, riesige, in Grüpp chen aufgeteilte Familie.
    Mein Vater nahm sich dreimal nach, meine Mutter – die tiefe Ringe um die Augen hatte und total fertig aussah – quasselte ohne Punkt und Komma. Als könnten wir, wenn nur genügend Worte in den Raum geworfen wurden, vergessen, dass Thanksgiving dieses Mal anders und ganz merkwürdig war. Um das Gespräch nur ja nicht stocken zu lassen, stellte sie mir haufenweise Fragen über Scarlett, Schule, Job. Mein Vater erzählte eine lange Geschichte von einem Hörer, der tatsächlich nackt über die Haupteinkaufsstraße in der Innenstadt gerannt war, um Konzertkarten zu gewinnen – der neueste Gag seiner Radiostation. Ich stocherte in meinem samtig weichen Kartoffelbrei herum. Was Macon wohl gerade trieb? Gab es für ihn überhaupt irgendwo Truthahn? Oder zog er sich in seinem kahlen Zimmerchen einen Big Mac rein, bevor er wieder einmal ohne mich auf irgendeine Party abdüste? Ich vermisste ihn, genauso |239| wie den klumpigen Kartoffelbrei, den meine Mutter sonst machte – bei uns zu Hause, bei unseren normalen Thanksgiving-Festen.
    Wir wohnten in Oma Halleys Haus. Ich bezog das Zimmer, in dem ich früher schon immer geschlafen hatte, wenn ich meine Sommerferien dort verbrachte. Meine Eltern richteten sich am anderen Ende des Flurs in dem Gäs tezimmer mit der blauen Blumentapete ein. Alles war wie immer, nichts hatte sich groß verändert. Der Kater war nach wie vor fett, aus den Rohren pfiff es die ganze Nacht, und jedes Mal, wenn ich an der Glocke im Treppenhausfenster vorüberging, gab ich ihr automatisch einen kleinen Schubs und verkündete so dem leeren Treppenhaus: Jetzt komme ich.
    Abends blätterte ich in den Zeitschriften, die ich mir mitgebracht hatte; als ich alle durchgelesen hatte, fing ich wieder von vorn an. Oder ich telefonierte mit Scarlett. An Thanksgiving hatte sie Cameron (in dessen Familie schon mittags Truthahn gegessen worden war)

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