Someone like you - Dessen, S: Someone like you
gedacht, die Feiertage wären dieses Jahr vielleicht nicht ganz so wichtig, weil Oma Halley krank war. Oder dass meine Mutter dadurch zumindest abgelenkt wä re . Doch damit lag ich falsch. Im Gegenteil, es schien total wichtig für sie zu sein, dass dieses Weihnachten besser, schöner, perfekter wurde als alle Weihnachten zuvor. Es dauerte gerade mal einen Tag – höchstens –, nachdem wir von Oma Halley und unserer Thanksgiving-Reise zurück gekommen waren, da wurden bereits die Schachteln mit Weihnachtsschmuck hervorgekramt, die Socken aufgehängt, die Planungen in Angriff genommen. Und zwar mit einem solchen Schwung, dass einem schwindelig werden konnte.
Am vierten Dezember verkündete sie beim Abendessen: »Wir brauchen einen Baum. Und deshalb dachte ich, wir fahren nach dem Essen zusammen los und besorgen einen. Das wäre doch eine nette gemeinsame Aktion.«
Mein Vater gab
es
von sich, zum ersten Mal in diesem Jahr: sein berühmtes Weihnachtsgrummeln. Eine Mischung aus einem abgrundtiefen Seufzer und einer unverständlichen, gemurmelten Brummelbemerkung. Das Weihnachtsgrummeln war der einzige Beitrag meines Vaters zu den Weihnachtstraditionen unserer Familie.
»Man kann bis neun Uhr abends Bäume kaufen, wie ihr wisst«, sagte meine Mutter unbeeindruckt, ja, fröhlich, und griff nach meinem Teller.
»Ich muss noch jede Menge Hausaufgaben machen.« Meine Standardausrede, für die mein Vater mir wie üblich unter dem Tisch einen Tritt verpasste. Wenn er mitmusste, dann ich ebenfalls. Mitgehangen, mitgefangen.
Auf dem Platz, wo die Weihnachtsbäume verkauft wurden, herrschte ein Wahnsinnsgedränge; daher brauchte |255| meine Mutter ungefähr eine halbe Stunde, um – natür lich – den perfekten Baum zu finden. Es war irre kalt. Ich stand beim Auto und sah zunehmend gefrustet dabei zu, wie sie mit meinem Vater an Fichten und Tannen vorbeilief, Reihe um Reihe um Reihe. Mein Vater musste einen Baum nach dem anderen hervorzerren, damit sie ihn begutachten konnte. Über mir aus dem Lautsprecher ertönte dasselbe Weihnachtsgedudel wie im Supermarkt; garantiert handelte es sich um das gleiche Band. Ich kannte je des Wort, jeden Ton, jede Pause und sang lautlos mit, ohne es überhaupt richtig zu merken.
»Hi, Halley.« Ich wandte mich um. Hinter mir stand Elizabeth Gunderson; sie hielt ein kleines Mädchen an der Hand, das unter seinem dicken Wintermantel ein Tüllröckchen trug. Die beiden sahen sich total ähnlich – das gleiche Gesicht, die gleiche Haarfarbe. In letzter Zeit hatte ich Elizabeth nicht oft zu Gesicht bekommen. Nach dem Skandal wegen ihres Exfreundes und ihrer besten Freundin war sie einige Wochen lang verschwunden gewesen, angeblich wegen einer Blinddarmoperation. Es gab allerdings Gerüchte, sie wäre in einer Art Sanatorium oder Klinik gewesen. Doch die wurden nie bestätigt.
»Hallo, Elizabeth.« Ich lächelte höflich. Hatte ganz bestimmt nicht vor wieder wie eine Idiotin dazustehen, die den Mund nicht aufkriegte.
»Lizabeth, will mir den Mistelzweig anschauen.« Das kleine Mädchen zerrte an ihrer Hand, strebte Richtung Kasse. »Komm jetzt mit.«
»Kleinen Moment, Amy«, meinte Elizabeth kühl und zerrte ihre Hand zurück. Das kleine Mädchen zog eine Schnute und stampfte mit dem Fuß auf; sie trug Ballettschühchen. »Na, Halley, wie geht’s?«
|256| »Okay. Bin viel mit meiner Familie unterwegs, wegen Weihnachten, du weißt schon.«
»Ja, ich auch.« Sie blickte zu Amy hinunter, die Elizabeths Hand losgelassen hatte und zwischen uns ein paar unbeholfene, schiefe Pirouetten drehte. »Wie läuft es zwischen dir und Macon?«
»Gut«, antwortete ich so cool wie möglich, die Augen fest auf Amys rosa Röckchen gerichtet.
»Habe ihn in letzter Zeit häufig draußen bei Rhetta rumhängen sehen. Du kennst doch Rhetta, oder?«
Die korrekte Antwort hierauf lautete selbstverständ lich : »Klar.«
»Dich habe ich nie mit ihm zusammen dort gesehen, aber ich dachte mir schon, dass wir uns vermutlich bloß verpasst haben.« Lässig strich sie sich das Haar aus dem Gesicht, eine typische Elizabeth-Gunderson-Geste. Obwohl sie längst kein Cheerleader mehr war, sah ich sie plötzlich wieder in ihrer Cheerleaderuniform vor mir: Beine schwangen in die Höhe, Haare flogen. »Seit Mack und ich Schluss gemacht haben, bin ich auch ziemlich oft bei Rhetta.«
»Das war ätzend«, sagte ich. »Ich meine, das mit dir und Mack.«
»Ja.« Sie atmete tief aus – eine große weiße Atemwolke in der
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