Somers, Jeff - Avery Cates 01 - Der elektronische Mönch
mich an gewisse Regeln. Ich lebte nach diesen Regeln.
Ich beugte mich ein wenig vor, bis meine Lippen fast Cannys Ohr berührten. »Ich«, flüstere ich, »töte nicht einfach irgendjemanden, der mir im Weg steht, Mr Orel, oder wer auch immer Sie zur Hölle nun wirklich sind. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie jetzt hier ist. Man sollte sie nicht dafür bestrafen.«
»Sie machen einen Fehler, Mr Cates.«
Ich richtete mich wieder auf. »Das ist mein gutes Recht. Sie wissen ja, welche Möglichkeiten Ihnen offen stehen.«
Auch er richtete sich jetzt auf, blickte mich lange Zeit nachdenklich an; ich erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich wusste nicht, ob er es gewohnt war, einfach ignoriert zu werden, aber ich war niemand, der aufs Geratewohl tötete. Einen Ruf musste man sich auch bewahren, und an einem einzigen schlechten Abend konnte es mit dem eigenen Ruf ein für allemal vorbei sein. Und wenn es notwendig war, konnte ich auch Cainnic Orel einen schlechten Abend verschaffen. Es dauerte ein wenig, doch dann lächelte er.
»Ja, Mr Cates. Ich weiß, welche Möglichkeiten mir offen stehen.«
Ich schaute zu, wie er im Inneren der Fabrik verschwand, gefolgt von einem der nervösen Droiden, die Ty darauf programmiert hatte, immer in unserer Nähe zu bleiben – nur für den Fall, dass wir uns verliefen. Ich ging zu Gatz hinüber und setzte mich neben ihn; dann seufzte ich lautstark.
»’n schlechter Tag, was?«, fragte er, ohne den Kopf zu heben.
»Ich habe niemandem einen Tipp wegen Harper gegeben«, sagte ich unvermittelt. »Scheiße, du warst doch selbst dabei, Kev. Wir haben doch nichts Blödes gemacht! Woher haben die meinen Namen? Noch nicht einmal eine halbe Meile von hier entfernt treibt sich eine ganze Million Gauner aus London herum, und ausgerechnet meinen Namen ziehen die aus dem Hut? Das war unser lieber Freund Moje. Colonel Moje. Wahrscheinlich weiß er noch nicht mal, dass sie wirklich hier bei mir ist, aber er hängt mir das einfach an, um mich in die Enge zu treiben.«
»Woher weißt du das?«
Ich verzog das Gesicht. Erschöpfung und Ausgelaugtsein hatte ich schon lange hinter mir gelassen, jetzt loderte in mir rastlose Energie. Ich wollte irgendetwas unternehmen, am liebsten irgendetwas zerstören, und es erschreckte mich, wie mächtig dieses Bedürfnis war. »Weil ich weiß, was jeder andere, der mich umbringen will, vorhat.«
Einige Momente saßen wir nur dort. Gatz war der Einzige, bei dem ich mir ziemlich sicher war, dass er mir nichts Böses wollte. Vielleicht war es ihm ziemlich egal, ob ich lebte oder nicht, aber er legte es nicht darauf an, mich tot zu sehen, und so traurig das auch sein mochte: Das war immer noch das Beste, was ich überhaupt hatte. Seite an Seite saßen wir dort, beide verdreckt, zerzaust und müde. Wir kamen aus der gleichen Ecke. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart einfach wohl.
Mein Blick wanderte nach rechts, und dort war Marilyn Harper. Sie starrte mich an, ihr Blick glasig; der unsanft angebrachte Knebel sorgte dafür, dass ihr Speichel über das Kinn rann. Ich wandte den Blick ab. Es erstaunte mich, wie kompliziert das alles geworden war. Es waren doch erst ein paar Tage vergangen! Und erstaunlicherweise würde in ein paar weiteren Tagen auch alles vorbei sein – auf die eine oder andere Weise.
Hinter mir hörte ich Schritte, und als ich mich rumdrehte, sah ich Milton und Tanner. Beide waren deutlich sauberer als ich, doch auch sie wirkten irgendwie ledrig.
»Dann komm schon«, fauchte Milton.
»Der OP ist jetzt frei. Nichts für ungut, Bruder.« Tanner grinste.
»Wir können doch nicht zulassen, dass du dir eine Blutvergiftung holst, oder?«
Ich kniff die Augen zusammen. »Was?«
Gleichzeitig blickten die beiden einander an; ich bekam Kopfschmerzen davon, sie auch nur anschauen zu müssen. »Deine Wange, du Arsch!«, erklärte Milton. »Bringen wir dich wieder in Ordnung.«
Ich saß auf der Kiste, die uns in der demolierten Küche als Tisch diente, während Milton und Tanner sich mit mir befassten. Schweigend stand einer der Droiden zwischen uns; er hielt unsere mageren Vorräte an medizinischen Versorgungsgütern bereit. Als Tanner nach einer dicken Nadel griff, in die ein grober schwarzer Faden eingefädelt war, zuckte meine Hand vor und umklammerte ihr Handgelenk.
»Du willst doch wohl nicht dieses Scheiß-Kabel durch meine arme, geschundene Haut ziehen, oder?«
Sie hob eine Augenbraue. »Stell dich nicht so an, Jungchen.
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