Somers, Jeff - Avery Cates 01 - Der elektronische Mönch
Zeit vor der Vereinigung. Sie sahen uralt und sehr empfindlich aus. Die konnte Kieth in Nullkommanix digitalisieren. Während ich sorgfältig den gesamten Inhalt der Tüte untersuchte, betrachtete Jerry nachdenklich Canny; offensichtlich musste er sich überlegen, ob man weiterhin gefahrlos mit uns Geschäfte machen konnte. Canny strahlte ihn regelrecht an; es gefiel ihm, die beunruhigende rätselhafte Gestalt‹ darzustellen.
»Ausgezeichnet«, sagte ich, verschloss die Tüte wieder und klemmte sie mir unter den Arm. »Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, Mr Materiel. Wir hätten noch weitere Aufträge für Sie, falls Sie daran interessiert sind.«
Einige Momente lang betrachtete mein Gegenüber weiterhin Orel, dann wandte er sich wieder mir zu und lächelte sofort über das ganze Gesicht. »Noch mehr Aufträge, Mr Cates? Aber gewiss doch! Was kann’n der gute alte Jerry noch für Sie organisian?«
Ich schaute zu Orel hinüber, und dieser reichte Jerry den kleinen Zettel. Gatz, der immer noch auf der anderen Seite neben mir stand, schien im Stehen eingeschlafen zu sein. Oder gestorben.
Materiels Lächeln schwand, als er die Liste durchging. »Das is ja’n interessantes Rezept, Mr Cates. Auch ziemlich knifflig. Das Erste hier, beispielsweise …«
Ich ließ meine Gedanken schweifen, während der Geschäftsmann sich in das übliche Gefeilsche hineinsteigerte: Wie schwierig das doch alles zu beschaffen sei, wie heiß es sei, mit mir Geschäfte zu machen, und wie sehr er daran zweifelte, dass es überhaupt ratsam sei, sich mit mir abzugeben. Alles führte natürlich zu der unvermeidbaren Schlussfolgerung, es werde mich eine ganze Stange zusätzlich kosten. Ich hatte schon unzählige Male Waffen und anderen Kram auf dem Schwarzmarkt gekauft, und oft genug war es einfach nur eine simple Transaktion gewesen – in manchen Fällen hingegen hatte es sich angefühlt, als sei ich mit dem verdammten Hehler verheiratet gewesen.
Irgendetwas Sonderbares ging hier auf der Straße vor sich.
Während der Ausschreitungen hatte es diesen Teil der Stadt ziemlich übel erwischt, aber nur in mancherlei Hinsicht. Zahlreiche Gebäude waren verkohlt und halb eingestürzt; seit fünfzehn oder zwanzig Jahren ließ man sie einfach verkommen. Andere hingegen waren völlig unbeschädigt und sahen nagelneu aus. Wohin man auch blickte, war Schutt aufgestapelt, und er lag vermutlich an genau derselben Stelle wie schon zwanzig Jahre zuvor. Etliche Ruinen waren inzwischen dicht überwuchert und bildeten regelrechte kleine Urwälder, auf die seitJahrzehnten niemand achtete. Männer und Frauen eines wohlvertrauten Typs – blass, hager, mittellos und alles in allem tierisch sauer-standen in kleinen Grüppchen beieinander oder liefen langsam und unglücklich im Kreis; dabei blickten sie alles und jeden finster an. Hin und wieder huschte eine wohlhabendere Gestalt vorbei, mit etwas mehr Fleisch auf den Rippen und nicht ganz so verzweifelter Miene, doch die weitaus meisten waren Leute wie ich.
Und dann gab es natürlich auch Mönche.
Hier waren sie in größeren Gruppen tätig – ich war mir nicht sicher, ob ich mir das nicht bloß einbildete, aber ich glaubte, mehr von denen zu sehen, als ich jemals zuvor an einem Ort versammelt erlebt hatte. Ich musste an Dick Marin denken, der mir erzählt hatte, in ein paar Jahren wäre die ganze Menschheit in Mönche verwandelt. An jeder Straßenecke stand einer dieser Metall-Dreckskerle auf einer Kiste, die Arme zum Himmel erhoben, und predigte die Lehren des Mulqer Codex. Sie sprachen ohne Pause, ohne jegliches Zögern, alles war einprogrammiert und erfolgte vollautomatisch. Teams dieser Dinger zogen die Straße auf und ab, lächelten ihr falsches Lächeln; die meisten Leute auf der Straße ließen sie dabei in Ruhe, doch hier und dort blieben sie stehen und sprachen den einen oder anderen an, wenn er denn ganz besonders verzweifelt und hoffnungslos wirkte. Sanft bedrängten sie ihre Opfer, ihr Menschsein aufzugeben, um auf Erlösung hoffen zu können. Ein paar der hartgesottenen Burschen auf der Straße hielten plötzlich den Mund und beobachteten die Mönche wachsam, als sie näher kamen, doch sobald die Cyborgs an ihnen vorbeigegangen waren, warfen sie ihnen finstere Blicke hinterher. Als die Mönche uns ganz in der Nähe passierten, richtete ich den Blick fest auf das Straßenpflaster. Ich machte mir Sorgen, sie könnten mein Gesicht scannen und mir dann folgen. Die Cyber-Kirche musste wissen,
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