Somers, Jeff - Avery Cates 01 - Der elektronische Mönch
Zusammengeklaubte Tische und Stühle standen in den Trümmern verteilt, und in einer Mülltonne mitten im Raum knisterte ein nettes, anheimelndes Feuerchen. Kurz blieb ich stehen und bewunderte das handgemalte Schild, das achtlos gegen die Wand des Gebäudes gelehnt stand: JEDEN ABEND LIVE-MUSIK. WER SITZT, MUSS SCHNELL TRINKEN.
Ich wandte mich Gatz zu und wollte gerade etwas sagen, doch dieser Freak war einfach weitergeschlurft und hatte die Kneipe bereits betreten. Rasch folgte ich ihm. Der einzige Gast dort war ein junger Bursche, offensichtlich asiatischer Abstammung. Er schien an seinem Tisch zu schlafen, die Beine hochgelegt, den Mund weit offen. Eine Sonnenbrille verdeckte die Augen, zwischen seinen Knöcheln stand eine leere Flasche. Ich ging zu der behelfsmäßigen Theke hinüber, während Gatz sich in der Nähe der Tür aufstellte und die eigene Sonnenbrille abnahm. Guter Junge! Er gab mir Rückendeckung.
Der Wirt war ein kleiner, rundlicher Mann mit auffallend rotem Gesicht; beunruhigend heiter strahlte er mich an.
»Willkommen! Willkommen in ›Rolfs am Meer‹.« Er blinzelte mir zu. »Gemeint ist natürlich das Meer der Menschenmassen, das jeden Abend an unseren heiligen Fenstern vorbeiströmt. Wir können Ihnen alles bieten, was Sie nur wünschen -vorausgesetzt, es ist Kartoffelwodka. Aber wir nennen es gerne, wie immer Sie es mögen.«
Ich stellte ihm die Frage, die sich unweigerlich aufdrängte. »Woher zum Teufel kriegen Sie denn die Kartoffeln?«
Er kniff ein Auge zu – seine Augen wirkten erschreckend trübe. »Wir nennen alles, woraus wir unsere edlen Schnäpse brennen, ›Kartoffeln‹, Sir. Das ist ein Sammelbegriff.«
Ich nickte. »Okay. Dann geben Sie mir ’ne Flasche.«
Beinahe hätte er vor Aufregung wohl gefurzt, dann huschte er davon. Er öffnete eine gut gesicherte, verstärkte Tür und verschwand in dem dahinterliegenden Raum. Echte Restaurants hatten natürlich abgefahrene Servier-Mechaniken und Kellner-Droiden, aber wer konnte sich so einen Scheiß schon leisten? Ich schlenderte zu Dornröschen hinüber, rückte mir den freien Stuhl zurecht und setzte mich.
»Musst du dich da hinsetzen?«, fragte der Bursche, ohne sich zu bewegen.
Ich kniff die Augen zusammen. »Nein.«
Ich grinste, als der klopsige Rolf mit übertriebener Feierlichkeit zu uns trat. Der junge Bursche am Nebentisch richtete sich auf, beugte sich vor und schwang mit überraschend gewandten Bewegungen die Beine unter seinen Stuhl. Dann sagte er: »Ich hätte auch nichts dagegen, noch einen Schluck zu kriegen.«
Ich schaute ihn an. Das musste noch ein Teenager sein, er war allerhöchstem achtzehn – aber schon jetzt völlig fertig. Kaputte Zähne, fahle Haut, rote Augen – eine echte Schande. Man konnte jeder Person mühelos ihren gesellschaftlichen Status ansehen, weil es eben nur zwei Sorten Menschen in New York gab – und vielleicht war das überall auf der Welt so: die Reichen und die Armen. Wenn man reich war, dann strotzte man nur so vor Gesundheit, man konnte seine Organe ersetzen lassen – herangezüchtet aus der eigenen DNA. Es gab nichtinvasive Lebensverlängerungstherapien, effektive Impfstoffe auf dem neuesten Stand der Technik – das ganze Paket halt. Wenn man nicht reich war und es wenigstens schaffte, überhaupt seine Kindheit zu überleben, dann sah man aus wie dieser Junge da. Oder wie ich. Ein wandelnder Leichnam. Entweder man hatte mehr Kohle, als ich mir auch nur vorstellen konnte, oder man hatte gar nichts. So war das eben.
Manchmal traf man in diesen Gin-Buden auch auf reiche Arschlöcher, die sich verkleidet hatten und so taten, als seien auch sie arm – ›Slumming‹ war der letzte Schrei. Aber genau das war es, was diese reichen Arschlöcher ständig taten -immer bloß so tun als ob. Wenn man so reich ist, dann gibt es nichts, was man stattdessen tun könnte. Alles, was die überhaupt machten, war doch immer nur ›so tun als ob‹. Das war eben so, weil keiner von denen überhaupt irgendetwas tun musste: Wenn man einer Arbeit nachging, dann machte man das bloß aus Spaß an der Freude, weil solche Jobs wirklich richtig mies bezahlt waren. Droiden machten sowieso alles besser; Menschen waren teuer und unzuverlässig – und wenn man ganz ehrlich war: Bei einem Menschen lief man immer Gefahr, dass er einen nach Strich und Faden ausnahm.
Entweder war man also reich, oder man war ein Cop, oder man war einer von den ›kleinen Leuten‹. Mich nervte es jedes Mal tierisch, wenn
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