Somers, Jeff - Avery Cates 02 - Die digitale Seuche
die Kleine an – ihr Gesicht war so rot und sie war so verschwitzt, dass ich mir einen Augenblick lang ernstlich Sorgen machte, ich könne irgendetwas übersehen haben. Vielleicht hatte sie sich ja irgendwie einen Marker eingefangen.
»In diesen alten Gebäuden aus der Zeit vor dem ›Großen V‹«, erklärte ich, »konnten die einen im Falle eines Brandes ja kaum zum Dach hochschicken. Da hätte man dann nur voller Entsetzen mitansehen dürfen, wie das ganze Gebäude abbrennt, Kleine. Also schicken einen diese alten Fahrstühle in einen Bunker unterhalb der Straße.« Ich hatte mich so sehr daran gewöhnt, Glee ständig diese kleinen Vorträge zu halten, dass ich kaum noch merkte, wenn ich es tat. Ich kniete mich auf den Boden und verschränkte die Hände. »Komm schon, ich wuchte dich hoch.«
Mit zusammengekniffenen Augen schaute sie mich an. »Wo soll ich denn hin? Warum spazieren wir nicht einfach aus diesem Bunker wieder raus?«
Ich nickte. »Klar, wenn du dich unbedingt umbringen lassen willst! Hör mal, Kleine, die sehen doch, dass sich dieser Fahrstuhl jetzt, genau in diesem Augenblick bewegt. Wenn die es darauf anlegen, uns abzufangen, brauchen die doch nur da unten auf uns zu warten. Also gehen wir nach oben.«
Mit skeptischer Miene nickte sie, stellte einen ihrer alten rissigen Stiefel auf meine Handflächen und hielt sich an meiner Schulter fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ich holte tief Luft und wuchtete Gleason zur Wartungsluke in der Decke des Fahrstuhls empor. »Nach oben?«, fragte Glee, während sie mit den Fingern die Umrisse der Klappe abtastete. »Wie weil ›nach oben‹ denn? Die haben diese Aufzüge erfunden, damit wir nicht so ’n Scheiß zu machen brauchen! Du weißt schon, klettern und so was halt.«
»Nur bis zum zweiten Stock«, antwortete ich. »Du faules Stück. Von da können wir springen.«
Ein leises ›Ooh‹ verriet mir, dass sie die Verriegelung gefunden hatte. Als sich die Luke dann öffnete, wurde für uns sofort eine kleine Leiter ausgefahren. Ein Windstoß fuhr durch die Fahrstuhlkabine; er peitschte Glees rotes Haar in alle Richtungen. Die Kleine streckte den Arm aus und zog sich sofort an der Leiter hoch, ohne sich nach mir umzublicken. Eine Sekunde später war sie schon über mir verschwunden. Ich holte tief Luft und folgte ihr, erreichte gerade in dem Augenblick das Dach des Fahrstuhls, als die Kabine zum Stehen kam, sodass wir beide ein wenig darum kämpfen mussten, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ich blickte mich um, kniff die Augen zusammen und entdeckte die Wartungsleiter, die unmittelbar hinter Glee dicht an der Wand des Schachtes befestigt war. Mit dem Kinn deutete ich darauf, und Gleason drehte sich danach um und begutachtete sie.
»Das da? Du willst, dass wir daran hochklettern?« Über ihre Schulter hinweg schaute sie mich an. »Das Ding ist verrostet. Das sieht aus, als wäre es hundert Jahre alt.«
»Kann schon sein«, sagte ich. »Ladies first.«
Sie zog eine Grimasse, und ich grinste. Auf meine alten Tage wurde ich richtig weichherzig. Das hier machte ja fast schon Spaß! Ich wusste, eigentlich hätte ich mir Sorgen machen sollen. Man hatte mich verraten, man hatte mir irgendwelchen Scheiß angetan, und dieser heutige Tag mochte sehr wohl damit enden, dass ich mir eine Kugel in den Kopf einfing. Eigentlich sollte ich sehr schlecht gelaunt sein, doch stattdessen fühlte ich mich … gut.
Glee griff nach der Leiter und zog sich daran hoch. Ich folgte ihr dichtauf und kletterte zum nächsten Wartungsschacht empor.
»Soll ich diesen Hebel zur manuellen Entriegelung ziehen?«, rief sie zu mir herunter, und dann zog sie daran, ohne meine Antwort abzuwarten. Mit einem rostigen Knirschen öffneten sich die Schachttüren. Licht und Musik und das Stimmengewirr einer Menschenmenge drangen zu uns herein, der Lärm senkte sich wie Staub auf uns, völlig gewichtslos. Glee stemmte sich durch die Tür. Ich folgte ihr, so schnell ich konnte, keuchte ein wenig, weil ich mich dafür ziemlich strecken musste, und umklammerte die Haltegriffe, die in den uralten Beton eingelassen waren.
»Avery ist fett«, sagte Glee atemlos vom zweiten Stockwerk aus. »Avery ist verdammt riesig.« Ohne Vorwarnung brach sie in einen heftigen Hustenanfall aus und brachte nur noch ein heiseres Krächzen zustande.
Ich wand und krümmte mich und hatte endlich den Boden des zweiten Stockwerks erreicht. Ich richtete mich auf, wischte mir die Hände ab und blickte mich
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