Somers, Jeff - Avery Cates 02 - Die digitale Seuche
keinen Sinn!
Ich erinnerte mich an eine verzerrte Stimme: Das ist keine Hinrichtung … das ist ein Attentat. Nicht auf dich. Aber trotzdem ein gottverdammtes Attentat.
»Scheiße, die erzählen uns doch überhaupt nichts«, sagte Stanley, zog seine Hose ein Stück höher und blickte zur Abwechslung einmal Jabali finster an. »Wir sollen halt bloß niemanden durchlassen, solange wir keine ausdrückliche Anweisung von einem Captain oder einem noch höher stehenden Vorgesetzten haben.«
Ich nickte und blickte mich um. »Ich brauche einen Passierschein.«
Stanley wandte den Blick von mir ab; plötzlich schien ihn etwas auf der anderen Straßenseite immens zu faszinieren. Jabali, der vielleicht nicht gerade der Hellste war, besaß immerhin noch genug Verstand, jetzt die Klappe zu halten und so zu tun, als sei er taubstumm. »Scheiße, Avery, du kommst hier einfach so am helllichten Tage zu mir und … ich verkaufe heute keine Passierscheine! Wenn du mir einen entsprechenden Befehl besorgen kannst, prima. Sonst dreh um und verkriech dich wieder in dein Rattenloch! Versuch’s hall morgen noch mal!«
Wieder ballten sich meine Hände zu Fäusten, und ich wiederholte innerlich mein ganz persönliches Gebet um Gelassenheit. Wenigstens war Stanley nicht so blöd, auch noch zu versuchen, Kapital daraus zu schlagen, dass ich gestern auf einer Wichtig-wichtig-Liste aufgetaucht war, indem er mich persönlich ablieferte. Ich blickte mich auf der Straße um. Es war so leise, dass ich deutlich hörte, wie der Schnee nach und nach unsere Stiefel zerfraß. Auch das keuchende Atmen des mondgesichtigen Brechers hörte ich fast ohrenbetäubend laut. Insgesamt sah ich auf der Straße elf Brecher, kein Einziger von denen auch nur im Mindesten talentiert – ganz besonders nicht der Mondmann da drüben, der den Eindruck erweckte, als müsse er jeden Atemzug im Voraus planen. Ich zweifelte nicht daran, dass ich diese Barriere hier notfalls stürmen könnte – und damit durchkommen. Aber Verfolgungsjagden oberhalb der Twenty-Third Street konnte ich wirklich nicht gebrauchen, also schüttelte ich nur den Kopf. »Ich zahle das Doppelte.«
Stanley schürzte die Lippen.
»Sind doch keine Vorgesetzten in der Nähe«, sagte ich rasch. »Du kennst mich doch, Stanley! Du weißt, du wirst auf dem Rückweg nichts mehr von mir hören. Als wäre ich nie hier gewesen!«
»Scheiße, Avery«, murmelte er, blickte kurz zu Jabali hinüber und spähte dann einmal die Straße hinab. »Das Doppelte?«
Ich nickte. »Zahlungsweise wie üblich. Und wir kommen allein zurück.«
Stanley schüttelte den Kopf, wandte sich ab und setzte erneut an auszuspucken. »Nichts ist mehr wie üblich. Die Drecks-Schnüffler von der Inneren sind hier wirklich jedem auf die Eier gegangen. Marin sieht einfach alles. Und ich habe nicht die Absicht, in irgendeinem Drecksloch wie Chengara zu landen. Und wegen dir schon mal gar nicht!«
Ich fluchte in mich hinein. Offiziell war Dick Marin der Leiter der Abteilung für Innere Angelegenheiten des SSD – der Oberschnüffler. Bevor ich für ihn Squalor erledigt hatte, war das auch alles gewesen, worauf er Einfluss hatte nehmen können – vor allem, da er kein Mensch mehr war. Er war eine digitalisierte Intelligenz, die mit Hilfe wer weiß wie vieler mechanischer Avatare handelte. Wenn man Dick Marin in einem Zimmer begegnete, sah er tatsächlich eindeutig menschlich aus. Trotzdem war er bloß ein ferngesteuerter Droide, und der echte Marin – wenn man das, was von ihm übrig war, überhaupt so nennen durfte! – war irgendwo auf einem Server gespeichert. Auf diese Weise wurde sein Verhalten allerdings auch durch einige Programmroutinen bestimmt: So war es ihm lediglich gestattet gewesen, die System-Bullen aufzuschrecken – die allesamt eine Scheißangst vor ihm hatten, schließlich war er der Einzige, in dessen Macht es stand, ihnen so richtig Arger zu machen.
Aber nachdem ich Squalor nun einmal umgebracht hatte -oder besser: nachdem Marin mich dazu gebracht hatte, Squalor umzubringen –, hatte Marin den Notstand ausrufen lassen, und gemäß den dann gültigen, reichlich obskuren Spielregeln hatte er plötzlich ungleich mehr Handlungsspielraum als zuvor besessen. Offiziell galt dieser Notstand immer noch, auch wenn man nicht mehr allzu viel darüber hörte. Das brodelte im Hintergrund einfach immer weiter und gestattete Marin, im Prinzip über das gesamte System zu herrschen. Ein Schattenkaiser. Seitdem hatte er seine Faust
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