Sommer am Meer
gehofft, dich umstimmen zu können.“
„Was hat sie gesagt?“
„Nicht viel. Aber ich habe ihr angemerkt, daß sie erschüttert war.“
„Ja, das glaube ich gern.“
„Du mußt an Nanny denken, Virginia. Die Kinder sind ihr Leben. Du mußt Rücksicht auf sie nehmen.“
„Ich sehe beim besten Willen nicht, was sie damit zu tun hat.“
„Natürlich hat sie etwas damit zu tun. Sie hat mit allem zu tun, was uns angeht. Sie gehört seit Jahren zur Familie, seit Anthony ein Baby war. Sie hat sich für deine Kinder aufgeopfert. Und du sagst, sie hat nichts damit zu tun.“
„Sie war nicht mein Kindermädchen“, sagte Virginia. „Sie hat sich nicht um mich gekümmert, als ich klein war. Du kannst nicht von mir erwarten, daß ich dasselbe für sie empfinde wie du.“
„Willst du wirklich behaupten, du fühlst keinerlei Bindung an sie? Nachdem du deine Kinder von ihr hast aufziehen lassen? Nachdem du acht Jahre in Kirkton mit ihr unter einem Dach gelebt hast? Ich muß sagen, du hast mich getäuscht. Ich dachte immer, ihr hättet euch gut verstanden.“
„Wenn wir uns gut verstanden haben, dann lag es an mir. Weil ich Nanny bei jeder Kleinigkeit nachgegeben habe, nur um des lieben Friedens willen. Denn wenn etwas nicht nach ihrem Willen ging, war sie tagelang beleidigt, und das konnte ich einfach nicht ertragen.“
„Ich dachte immer, du wärst die Herrin in deinem eigenen Haus.“
„Dann hast du dich geirrt. Und selbst wenn ich den Mut zu einem Krach mit Nanny aufgebracht und sie gebeten hätte zu gehen, hätte Anthony es nicht zugelassen. Er hielt große Stücke auf sie.“
Bei der Erwähnung ihres Sohnes war Lady Keile etwas blaß geworden. Sie hielt die Schultern bewußt gerade, die Hände fest im Schoß verschränkt. Sie sagte eisig: „Und ich nehme an, darauf muß nun keine Rücksicht mehr genommen werden.“
Virginia bereute es augenblicklich. „Du weißt, daß ich das nicht gemeint habe. Aber ich bin jetzt allein. Die Kinder sind alles, was ich habe. Vielleicht bin ich egoistisch, aber ich brauche sie. Ich muß sie um mich haben, unbedingt. Sie haben mir so gefehlt.“
Auf der anderen Straßenseite hielt ein Auto, ein Mann schimpfte, eine Frau antwortete ihm mit schriller, wütender Stimme. Als sei der Lärm mehr, als sie ertragen könne, stand Lady Keile auf und schloß das Fenster.
Sie sagte: „Mir werden sie auch fehlen.“
Hätten wir uns jemals nahegestanden, dachte Virginia, dann würde ich sie jetzt in die Arme nehmen und ihr den Trost schenken, nach dem sie sich sehnt. Aber das war nicht möglich. Sie hatten Zuneigung und Respekt füreinander empfunden. Aber keine Liebe, keine Vertrautheit.
„Ja, das kann ich mir denken. Du warst so gut zu ihnen und zu mir. Und es tut mir leid.“
Ihre Schwiegermutter wandte sich vom Fenster ab. Sie hatte sich und ihre Gefühle wieder in der Hand. „Ich denke“, sagte sie, „es wäre eine gute Idee, eine Tasse Tee zutrinken.“ Und damit steuerte sie auf die Klingelschnur neben dem Kamin zu.
Die Kinder kamen um halb sechs zurück. Die Haustür ging auf und zu, und ihre Stimmen erklangen aus der Diele. Virginia setzte ihre Teetasse ab und saß ganz still. Lady Keile wartete, bis die Schritte am Treppenabsatz vor der Wohnzimmertür vorüber und auf dem Weg nach oben ins Kinderzimmer waren. Dann ging sie die Tür öffnen.
„Cara, Nicholas.“
„Hallo, Großmama.“
„Hier ist Besuch für euch.“
„Wer?“
„Eine Überraschung. Kommt, seht selbst.“
Viel später, als die Kinder hinaufgegangen waren, um zu baden und zu essen, nachdem Virginia selbst gebadet und ein sauberes, kühles Seidenkleid angezogen hatte, und bevor der Gong zum Abendessen ertönte, ging sie ins Kinderzimmer hinauf, um mit Nanny zu reden.
Virginia traf sie allein an, damit beschäftigt, das Abendbrotgeschirr der Kinder ab- und das Zimmer aufzuräumen, bevor sie sich wie allabendlich vor den Fernseher setzte.
Nicht daß es nötig gewesen wäre, das Zimmer aufzuräumen. Aber Nanny konnte nicht abschalten, bevor nicht jedes Kissen auf dem Sofa ausgerichtet, alles Spielzeug weggeräumt, die schmutzigen Kleider der Kinder in der Wäsche und die frischen für den nächsten Morgen zurechtgelegt waren. So war sie immer gewesen, schwelgend in der mustergültigen, nach ihren eigenen strengen Maßstäben geschaffenen Ordnung. Und sie hatte immer gleich ausgesehen, eine adrette, magere Frau, inzwischen über sechzig, aber kaum eine Spur Grau in den dunklen Haaren, die
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