Sommer der Entscheidung
zerspringen wollte. „Ich erinnere mich daran, dass ich den Namen William Lee Whitlock so wundervoll fand, als der Geistliche ihn aussprach. Und dass Nancy Ann Henry so gewöhnlich war. Das erste Mal, als mich jemand mit Nancy Whitlock ansprach, wusste ich nicht, wer gemeint war.“
„Der Priester verlas eure beiden Namen drei Monate später, als du immer behauptet hast, dass ihr geheiratet habt.“
Nancy holte tief Luft. „Ich weiß, wann ich geheiratet habe, Tessa.“
„Also warst du schon vor der Heirat schwanger, richtig? Darum hast du immer behauptet, dass ihr im Frühjahr Hochzeit hattet.“
„Es ist nichts, was man wirklich laut sagt, oder? Wann wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, es dir zu sagen? Schlafende Hunde weckt man nicht.“
Tessa schwieg.
Nancy war es unangenehm, aber sie war entschlossen. Es zu leugnen war sinnlos. „Ich habe deinen Daddy getroffen, als ich noch zu jung war, um irgendeine Ahnung zu haben. Ich nehme an, ich kam ihm als Ablenkung gerade recht, als er in den Semesterferien auf sein Abschlussjahr an der University of Virginia wartete. Als er dann zurück an die Uni fuhr, hatte ich Angst, ich würde ihn nie mehr wiedersehen. Vielleicht hältst du mich heute für eine unglaublich närrische Frau. Aber damals habe ich den Tatsachen ins Auge gesehen. Ich habe nie erwartet, dass Billy mich heiratet, noch nicht einmal, als ich herausfand, dass ich mit dir schwanger war. Aber Billy, wie er nun einmal war, tat, was ein Gentleman tun musste.“
Tessas Gesichtsausdruck wurde weicher. „Mom, er ist bis heute mit dir verheiratet. Das ist mehr als das, was ein Gentleman tun muss.“
Nancy wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie hatte sich in die Frau verwandelt, die Billy brauchte. Und sie nahm an, dass er das anerkannte. Ihre soziale und politische Ader brachte ihm bei seinen Kunden und Geschäftsbeziehungen Pluspunkte. Sie sorgte dafür, dass sein Leben reibungslos und ohne Probleme lief. Sogar nach den Wechseljahren, wenn ihre Freundinnen schworen, dass sie einen Mann eher erschießen würden, als mit ihm ins Bett zu gehen,hatte sie mit Billy geschlafen, wenn er es wünschte. Was soll’s – sie wollte es ja auch. Sie liebte den undankbaren Dickschädel.
„Wie ist es dazu gekommen?“, wollte Tessa wissen. „Ich glaube, alles, was ich über euch weiß, ist eine Lüge. Ihr habt euch gar nicht auf einer Party getroffen und euch unsterblich ineinander verliebt, nicht wahr?“
„Das ist so lange her.“
Tessa legte ihren Arm um Nancys Schultern, eher wie eine Freundin als wie eine Tochter. „Lass uns spazieren gehen. Es hat sich ein bisschen abgekühlt. Vielleicht haben wir Glück, und es gibt Regen. Aber es ist jetzt angenehm draußen.“ Ihr Tonfall war versöhnlich.
„Es gibt sonst nichts mehr Aufregendes zu erzählen.“
„Es muss auch nicht aufregend sein. Aber die Wahrheit wäre nett. Oder einfach was du erzählen magst.“
Nancy überlegte, dass der Zeitpunkt nicht schlecht war, Tessa ein wenig über ihre Vergangenheit aufzuklären. Immer hatte sie gewusst, dass ihre Tochter irgendwann herausfinden würde, dass sie vor der Heirat ihrer Eltern gezeugt war. Diese Katze war nun aus dem Sack. Und diese Wendung der persönlichen Seifenoper, die ihr Leben darstellte, lenkte Tessa von den Problemen mit Mack ab. Und von Kayley.
Nancy rieb sich die Hände und steckte sie dann in die Taschen. „Lass uns hinunter zum Fluss gehen. Ich habe schon immer den kleinen Hügel gemocht, der direkt am Wasser liegt. Früher wollte ich dort gern ein Sommerhäuschen haben, in das sich dein Daddy und ich zurückziehen konnten.“
„Was ist daraus geworden?“
„Er wollte nicht.“ Nancy fragte sich, ob sie Billys Meinung nur angenommen oder ob sie ihn wirklich eines Tages gefragt hatte. Außerdem, was hätte William Lee Whitlockmit einem rustikalen Wochenendhaus auf dem Lande gewollt, wenn er schon Ferienhäuser in Hilton Head und Vail besaß?
„Wo habt ihr euch kennengelernt?“, wollte Tessa wissen. „Wart ihr wirklich auf einer Party, so wie du es mir immer erzählt hast?“ Tessa ging voraus, und widerwillig folgte ihre Mutter.
„Nein, ich habe an einem Stand Tomaten verkauft, und als er etwas Freches sagte, habe ich eine nach ihm geworfen.“
Tessa hielt an. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“
Nancy dachte daran, wie wenig Interesse Billy ihr diesen Sommer entgegengebracht hatte, und ihr Mund wurde eine schmale Linie. „Glaubst du, ich nehme dich auf den
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