Sommer der Entscheidung
überrascht, wie wenig Nancy sich in das schulische Leben außerhalb des Unterrichts eingebracht hatte. Sie fand sie weder auf den Fotos des Chors oder der Theater-Gemeinschaft. Nancy hatte weder bei den Cheerleadern noch bei den Sportteams mitgemacht. Auch fehlte sie sowohl auf den Seiten der Gruppen, die in der Gemeinde halfen, als auch in den Artikeln über die anderen Arbeitsgemeinschaften. Tessa wäre nicht darauf gekommen, dass es das Jahrbuch ihrer Mutter war, wenn es nicht das winzige Foto von ihr, so groß wie eine Briefmarke, in einer Reihe von ihren Mitschülern gegeben hätte. Eine Nancy mit Engelsbacken lächelte vorsichtig in die Kamera, während alle anderen Kinder selbstbewusst strahlten.
Nancy hatte erzählt, dass sie zu viel auf dem Hof hatte helfen müssen, um an Arbeitsgemeinschaften in der Schule teilnehmen zu können, aber Tessa hatte das eher als indirekte Kritik an Helen abgetan. Tessa suchte nach dem Jahrbuch aus der zwölften Klasse, wo auch die üblichen Berichte aufgeführt waren, was alles im Laufe des Schuljahres geschehen war. Was würde es zeigen? Die Einträge, Widmungen und Unterschriften der liebsten Freundinnen, sentimentale Poesie von aknegebeutelten Verehrern? Ein Schuljahr voll Englisch-, Mathe- und Biologieunterricht, aber ohne Vergnügungen?
Tessa wusste, dass ihre Eltern sich in dem Frühjahr kennengelernt und geheiratet hatten, als ihre Mutter zweiundzwanzig Jahre alt wurde. Die Zeit vor der Hochzeit war knapp. Sie waren ein ungleiches, aber leidenschaftliches Paar, und das unerwartete Auftauchen von Tessa Whitlock beendete Nancys Ausbildung abrupt. Aber wovon hatte ihre Mutter geträumt? Was waren ihre beruflichen Wünschegewesen, bevor sie sich verliebte und einen Mann heiratete, von dem sie sich so sehr unterschied wie ein Schmetterling von einem Adler? Aber Tessa suchte weiter und fand schließlich das Jahrbuch des darauffolgenden Schuljahres. Sie schlug es auf und suchte die Seite mit den Fotos der Abschlussklasse. Sie musste über das Bild ihrer Mutter lächeln. Es war größer als im letzten Jahr, und Nancy trug schwarz mit einer Perlenkette, die in den sechziger Jahren obligatorisch war.
Auf diesem Foto lächelte Nancy nicht, sie sah aus, als würde sie sich nicht sehr wohl fühlen. Offensichtlich war die elegante Garderobe ungewohnt für sie. Ihre blonden Haare waren kurz geschnitten und sorgfältig um ihr Gesicht herum gelockt. Sie hatte riesige Augen, die all die furchteinflößenden Möglichkeiten der Zukunft erahnten. Aber sie hatte an Aktivitäten teilgenommen. Zumindest war sie als Mitglied des Clubs für die Verschönerung der Schule aufgeführt. Unter der Rubrik „liebstes Buch“ hatte sie Vom Winde verweht – für Tessa keine große Überraschung – und als „ehrgeizigstes Ziel“ jemand sein eingetragen.
Tessa klappte das Buch wieder zu und hielt es fest. Sogar damals hatte Nancy genau gewusst, was sie wollte. Und nun – wie weit war sie gekommen? Nur wenige Jahre später heiratete sie die Richmonder Version der Wilkes und lebte in ihrem eignen Twelve Oaks. Oder wenigstens war sie nahe dran. Und in Richmond war sie wirklich jemand, eine Magnolie aus Stahl mit genügend Macht und Prestige.
Oder auch nicht. Im vergangenen Monat bemerkte Tessa immer mehr Hinweise darauf, dass Nancy doch nicht so mit ihrem Leben zufrieden war, wie es immer schien. Einmal die Woche fuhr sie nach Richmond zurück, kam abends aber wieder. Nie erzählte sie etwas von Billy, deswegen ging Tessa davon aus, dass die beiden sich nicht sahen, wenn ihre Mutterin der Stadt war. Außerdem war es auffällig, wie ihre Mutter es vermied, ihren Vater zu treffen, wenn er sie in der Fitch Crossing Road besuchte, was selten genug geschah.
Tessa hatte nie Grund gehabt, sich über die Ehe ihrer Eltern Gedanken zu machen, außer dass sie ein seltsames Paar waren. Aber nun fragte sie sich, was in der Villa der Whitlocks los war. Oder hatte sie nun endlich festgestellt, dass etwas bei den Whitlocks im Argen lag und dass Nancy und Billy nur ihretwegen oder für den schönen Schein zusammengeblieben waren?
Bei diesem Gedanken holte sie tief Luft, und sie hatte ein komisches Gefühl im Magen. Nancy konnte anstrengend sein, aber Tessa liebte sie. Sie konnte sich ihre Mutter nicht ohne Billy vorstellen. Alles, was Nancy in ihrem Leben erreicht hatte, hing mit ihm zusammen. Was wäre sie ohne ihn, und wohin sollte sie gehen? Und obgleich Tessa viel zu alt war, als dass ihre Eltern
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