Sommer der Entscheidung
geschoben und der Hühnerzaun an dieser Stelle wieder neu aufgebaut.
Kayley hatte großen Spaß mit Helens Hühnern gehabt. Sie waren ein komischer Haufen. Im Gegensatz zu Helen, die durch und durch praktisch veranlagt war, waren die Hühner kompliziert. Helen hatte sich nie Haustiere gehalten, um sich an ihnen zu erfreuen. Tiere erfüllten ihren Zweck, das hatte mit Zuneigung nichts zu tun. Sie hatte eine Unmenge Katzen, die auf dem Hof geboren waren und denen sie noch nicht einmal einen Namen gab. Manchmal lagen sie vorn auf der Veranda in der Sonne, aber sie kamen nie ins Haus. Sie wurden sterilisiert und gefüttert, im Gegenzug dafür fingen sie Mäuse und töteten Schlangen. Helen pflegte mit ihnen also eine rein geschäftliche Beziehung.
Helens Hühner waren folglich auch keine richtigen Haustiere für sie. Sie sammelte verschiedene Rassen und tauschte einzelne Tiere mit anderen Farmern aus der Gegend,wenn sich die Gelegenheit bot. Tessa konnte sich an einige der Rassen erinnern, weil Helen sie Kayley beibrachte und Kayley sie vor sich hingesungen hatte wie einen Kinderreim. Es gab zum Beispiel die schmalen Araucanas, deren Eier grün und blau waren – das waren Kayleys Lieblingshühner. Es gab stattliche, schöne Brahmas, die schwarzweiße Federn am Kopf und an den Schenkeln hatten, die schwarzen Minorka-Hühner mit ihren großen roten Kämmen und Kehllappen.
Kayley hatte vor den Hühnern nie Angst gehabt, noch nicht mal dann, wenn sie bei einem Ausflug zum Hühnerstall anfingen, an ihren bloßen Füßen zu picken, die in Sandalen steckten. Sie hatte sie mit fliegenden, blonden Zöpfen nur weggescheucht, als sei nichts dabei. Helen, die sonst selten Lob aussprach, hatte bemerkt, dass Kayley vielleicht die Einzige aus der Familie sei, die überhaupt das Zeug dazu hätte, Farmerin zu werden.
Der Aufruhr im Stall war genauso schnell zu Ende, wie er angefangen hatte, und alles war wieder still. Tessa stand auf und ging an das Geländer, das die Veranda umgab. Sie lehnte sich weit darüber und starrte in die Dunkelheit. Es gab tausend Geräusche da draußen. Insekten flogen umher und Zikaden zirpten, in der Ferne hörte man Kühe muhen. Das erste Mal, als Kayley zelten ging, ermunterte Mack sie dazu, den Geräuschen der Nacht genau zuzuhören. Sie hatte die nächtliche Symphonie in „Angstgeräusche“ umbenannt und wollte unbedingt wissen, was hinter jedem einzelnen Geräusch steckte, bevor sie sich wieder hinlegte. Sie war schon immer ein eher neugieriges als ängstliches Kind gewesen und gewöhnte sich schnell an Neues.
Auf Fitch Crossing wurde es hell, als ein Auto auf der Straße heranfuhr. Tessa sah die beiden Scheinwerfer, dann verlangsamte der Wagen das Tempo, bevor er in die Auffahrtihrer Großmutter einbog. Sie hörte leise Musik aus dem Auto dringen, wahrscheinlich Countrymusik, bevor Macks blauer Toyota, sie selbst fuhr das gleiche Modell, vor der Veranda anhielt. Der Motor wurde ausgestellt.
Sie ging die Stufen nicht hinunter, um ihn zu begrüßen. Sie wartete ruhig, ihre Hände hingen regungslos herab. Einen Moment später tauchte er auf. Er zog einen Koffer hinter sich her. Sie wartete, bis sie wieder normal sprechen konnte, ehe sie ihn begrüßte.
„Mack, ich bin hier oben.“
Er trug den Koffer die Stufen hoch und lehnte ihn gegen das Geländer. „Was machst du hier draußen im Dunkeln?“
„Die Lampe hätte jede einzelne Mücke im ganzen Shenandoah County angelockt. Und Mom und Gram haben sich schon schlafen gelegt.“
„Auf dem Lande geht man früh ins Bett, was?“
„Hier draußen gibt es ja nicht viel zu tun. Gram weigert sich immer noch, sich eine Satellitenschüssel anzuschaffen. Der Empfang der Fernsehsender hängt also vom Wind und vom Willen der Götter ab. Allerdings hat sie eine recht umfangreiche Bibliothek. Besonders, wenn du gern Grundschulfibeln liest.“
„Fibeln?“
„Ich glaube, sie stimmt der Entscheidung des Kultusministeriums nicht zu, die Klassenräume modern auszustatten. Sie ist durch die Müllhalden der Schulen gegangen und hat die alten Schulbücher herausgefischt.“
Obwohl es nicht sehr hell war, konnte Tessa sehen, dass Mack müde war. Er sah immer noch so gut aus wie zu dem Zeitpunkt, als sie sich zum ersten Mal getroffen hatten. Er hatte unverändert volles Haar, und neue Falten ließen sein Gesicht reifer wirken. Mittlerweile trug er meistens eine Brille mit schmaler Metallfassung, durch die sie sehr unauffälligwirkte, was dazu führte, dass
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