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Sommer der Entscheidung

Sommer der Entscheidung

Titel: Sommer der Entscheidung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emilie Richards
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unterrichtete Malik zwar nicht in ihrer eigenen Klasse, aber dafür ging ein anderer junger Mann, James Bates, bei ihr in den Unterricht. Er bewunderte Malik. James sagte zwar wenig, folgte aber dem Unterricht immer aufmerksam.
    An dem Tag, an dem Malik mit einer Neun-Millimeter-Flock-Pistole in der Schule auftauchte, wartete James unglücklicherweise vor dem Schulgebäude auf einen Freund. Malik sah, dass zwei Lehrer im Flur standen, und konnte deswegen davon ausgehen, dass sein Rucksack auf Waffen oder Drogen durchsucht werden würde. Er bat James, die Tasche mit hineinzunehmen, während er noch im Sekretariat etwas zu erledigen hatte. James, der geschmeichelt war, dass er Teil von Maliks Welt werden durfte, stimmte zu.
    Keiner der beiden Jungen wusste, dass der Direktor in dieser Woche angeordnet hatte, Schultaschen und Rucksäcke nach dem Zufallsprinzip zu durchsuchen. James, der noch nie Ärger hatte, zählte zu den Auserwählten, deren Taschen gefilzt wurden. Als die Waffe gefunden wurde, erklärte James, der Rucksack gehöre Malik, was sich leicht belegen ließ. Aber die Tatsache, warum er Maliks Tasche mit in die Schule brachte, das war eine andere Geschichte.
    „Sind Sie Tessa Whitlock?“
    Tessa sah auf. Im Türrahmen stand ein Mann. Für einen Augenblick vergaß sie, dass er sie etwas gefragt hatte. Dann lächelte sie, vielleicht zum ersten Mal an diesem furchtbaren Tag. „Und Sie sind Andrew MacRae?“
    „Sagen Sie ruhig Mack zu mir.“ Er ging auf sie zu und reichte ihr die Hand. „Ich hatte jemand älteren erwartet.“
    „Ja, ich auch.“ Sie schüttelte ihm die Hand, die warm und fest war und ihren Händedruck mit Stärke und Energie erwiderte. Er hatte dunkle Locken, eine sportliche Figur und war von der Sonne gebräunt, was seine hellblauen Augenfast silberfarben wirken ließ.
    Er war, mit einem Wort, alles, was sie sich von einem Mann wünschte. Sie schüttelte den Kopf. Als sie die Anwaltskanzlei anrief, bei der Mack arbeitete, hatte sie erwartet, sie würden einen älteren, erfahreneren Anwalt schicken. Sie dachte – und tat es immer noch –, dass ihr Vater ihr die Nummer von Macks Kanzlei gegeben hatte, weil er hoffte, sie von dem Gedanken abbringen zu können, James helfen zu wollen. Jetzt erkannte sie, dass ihr Vater Billy wahrscheinlich einen Fehler gemacht hatte.
    „Sie sehen nicht wie ein Anwalt aus“, sagte sie und betrachtete ihn genauer.
    Er beobachtete sie dabei, wie sie ihn musterte. „Und Sie sehen nicht so aus, als könnten Sie eines dieser Kids überwältigen, wenn Sie es müssten.“ Ihr fiel auf, dass er beim Lächeln kleine Fältchen um die Augen hatte und dass diese kleinen Falten ihn sogar noch jünger aussehen ließen.
    „Sie sehen nicht so aus, als würden Sie normalerweise viel Aufhebens machen.“
    „Und Sie sehen nicht so aus, als würden Sie ernsthaft darüber nachdenken, Ihren Job als Lehrerin zu gefährden.“
    Erst dann zog sie ihre Hand aus seiner, als sie bemerkte, dass sie sich immer noch die Hände schüttelten. „Ich weiß, wir werden diesen Fall verlieren. Auch wenn wir alle legalen Register ziehen, wird James bis zum nächsten Jahr suspendiert. Sie müssen diese Niederlage zugeben, Ihre Kanzlei wird darüber nicht glücklich sein. Sie werden sich fragen, warum Sie diesen Fall überhaupt angenommen haben, und ich werde mir einen neuen Job suchen müssen.“
    Mit seiner Antwort ließ er sich Zeit. Er sah sie an, sagte jedoch nichts. Schließlich erwiderte er: „Aber wir werden etwas erreichen. James wird wissen, dass er jemandem so wichtig ist, dass er für ihn kämpft. Ich werde als jemand dastehen,der sich für eine gerechte Sache einsetzt. Und Sie …“
    Sie wartete ab. „Und ich …?“, wiederholte sie.
    Er hatte eine tiefe Stimme, der man anhörte, dass er viel lachte. „Sie, Tessa Whitlock, werden meine grenzenlose Bewunderung haben.“
    Sie lächelte zum zweiten Mal an diesem Tag und sah, dass sich auch seine Gesichtszüge langsam erhellten.
    Danach, und in all den folgenden Monaten und Jahren, erfuhr sie, dass die Bewunderung von Andrew MacRae fast jeden Preis wert war.
    Tessa wurde in ihren Erinnerungen unterbrochen, als von der Rückseite des Hauses ein ärgerliches Quietschen erklang. Vor vielen Jahren hatte ihre Großmutter einen fahrbaren Hühnerstall gebaut. Jedes Mal, wenn die Hühner nun ein kleines Stück Garten oder Feld hinter dem Haus von lästigen Käfern und Unkraut befreit hatten, wurde der Stall auf ein neues Feldstück

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