Sommer der Entscheidung
siebenundzwanzig Jahre alt und hatte immer geglaubt, sie hätte unbegrenzte Energie, aber nachdem sie fast fünf Jahre Englisch an einer Highschool in der Innenstadt von Richmond unterrichtet hatte, überkam sie das Gefühl, ihre Batterien seien leergelaufen.
Den ersten Rückschlag erhielt sie, noch bevor der Arbeitsvertrag unterschrieben war. Ihre Mutter hatte den Schuldirektor angesprochen und bat ihn, sich noch einmal genau zu überlegen, ob er Tessa wirklich einstellen wolle. Nancy war mit der Berufswahl ihrer Tochter nicht zufrieden. Der zweite kam gleich an ihrem ersten Unterrichtstag. Ihre Schüler hatten mit einem Blick erfasst, dass die Neue, die offensichtlich aus dem privilegierten Stadtteil Windsor Farm stammte, ihnen nicht viel beibringen konnte. Die Regeln, die sie sorgfältig ausgearbeitet und an die Tafel geschrieben hatte, würde sie nie durchsetzen können.
Aber sie gab nicht so schnell auf. Sie wollte sich durchsetzen, holte sich von jeder Person Rat, mit der sie sprach, und gewann so Stück für Stück das Vertrauen der Klasse. Gleichzeitig bekam sie den Ruf, fair und unvoreingenommen zu sein. Am Ende des Schuljahres konnte sie ihren Erfolg sehen, aber die Anstrengung, die dazu nötig gewesen war, hatte ihr alle Energie geraubt.
Jetzt, kurz vor Beginn ihres sechsten Jahres an dieser Schule, war sie wieder einmal extrem erschöpft.
„Sieh mal, Tessa, du kommst nicht an jeden Schüler heran!“ Samantha Johnson stützte sich mit den Händen auf die Kante von Tessas altem Schreibtisch, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Genau wie Tessa lehnte es Samantha ab, während der Unterrichtsstunden am Lehrertisch zu sitzen, sondern ging durch die Reihen, während sie ihren Vortrag hielt oder die Schüler abfragte. Nach Schulschluss waren ihre Füße geschwollen und taten weh.
Tessa stützte den Kopf auf ihre Hände. „Und James? Doch nicht James. In ihm steckt so viel drin. Er ist eigentlich ein guter Junge, und er hat das nicht verdient.“
„Natürlich hat er das verdient. Nur weil er ‚Bitte‘ und ‚Danke, Miss Whitlock‘ sagt, glaubst du, darf er eine Waffe mit in die Schule bringen? Wenn er dich oder mich oder irgendeinen anderen Schüler damit umbringt, was nützt es dann, dass er Bitte und Danke sagt?“
Tessa wusste, dass Sam recht hatte, wie immer. Samantha Johnson unterrichtete hier schon seit zwölf Jahren. Das war für diese Schule rekordverdächtig. Nach Tessas Probezeit hatte Sam sie unter ihre Fittiche genommen. Samantha wollte abwarten, ob dieses weiße Mädchen, das frisch von der Uni kam, dort bleiben oder an eine nette Privatschule flüchten würde. Sam war mittleren Alters, recht mollig, und hatte sich an beides gewöhnt. Sie gewöhnte sich allerdings niean schlechte Manieren, schlechte Noten oder schlampig gemachte Hausaufgaben. Und sie sorgte dafür, dass die Schüler, die in ihren Unterricht kamen, sich auch nicht daran gewöhnen konnten.
Tessa sah zu ihr auf. „Aber es war nicht James’ Waffe. Ich glaube, er hat noch nicht einmal gewusst, dass Malik eine Pistole in seinem Rucksack hatte, als er die Tasche für seinen Freund mit hereingebracht hat.“
„Das glaubst du?“
„Ich bin eine unverbesserliche Optimistin.“
„Das wird sich schnell geben, wenn du siehst, unter welchen Bedingungen diese Kinder aufwachsen.“
Sam schob ihren massigen Körper von Tessas Tisch. „Es tut mir auch leid, dass das passieren musste, aber mach dich dafür nicht selbst herunter, Tessa. Lass es einfach, wie es ist. Du kannst nichts daran ändern, es sei denn, du willst deinen Job verlieren. An dieser Schule gibt es genug Kinder, die du fördern kannst. Such dir einfach einen anderen Schüler oder eine Schülerin aus und stürz dich auf sie.“
Sie verabschiedeten sich, und Tessa wartete, bis ihre Freundin gegangen war, bevor sie anfing, den Klassenraum aufzuräumen, damit der Hausmeister später fegen konnte. Sie konnte es aber nicht „sein lassen“. Nicht mal ein kleines bisschen.
Ein Schüler, Malik Green, hatte ein paar Tage zuvor eine geladene Pistole mit in die Schule gebracht. Tessa war sich nicht ganz sicher, warum Malik eigentlich noch auf die Highschool ging. Er fehlte häufig, bekam immer Ärger, und sowohl sein Rucksack als auch sein Spind waren regelmäßig Ziel von Durchsuchungen. Die Liste seiner Vergehen sah so aus wie die Aneinanderreihung von Vorstrafen, auf die sich Polizeiexperten beziehen, wenn sie das Profil eines Psychopaten erstellen.
Tessa
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