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Sommer der Entscheidung

Sommer der Entscheidung

Titel: Sommer der Entscheidung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emilie Richards
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rannte in die entgegengesetzte Richtung. Und als er das tat, hob Herman im hohen Bogen ab wie eine Art Vogel. Er landete in einer Hecke aus Efeu, gleich neben der Kirche. Es war eine ganz weiche Hecke, und er hat sich kein bisschen verletzt.“
    „Aber er war immer noch nackt“, stellte Lenore fest. „Nackt vor all diesen Leuten!“
    „Glaubt ihr, dass dieser Junge noch einen einzigen Sonntagsgottesdienst geschwänzt hat?“, fragte Becky.
    Helens Augen waren aufgerissen, als sie einen Stuhl quietschen hörte. Dann sah sie das Gesicht ihrer Mutter unter dem Quilt hervorlugen. „Was meinst du?“, fragte Delilah Helen.
    Helen dachte nach. Herman hatte etwas erlebt und konnte es seinen Enkeln erzählen, bis er tot umfiel. Und er hatte alles überlebt. Sie war sich nicht sicher, ob die Tatsache, dass er nackt vor all diesen Leuten stand, das wieder ausglich. Sie war sich wirklich nicht sicher, aber sie wusste, was sie sagen sollte. „Nein, Mama“, antwortete sie.
    Delilah zwinkerte ihr zu, bevor sie wieder unter dem Stoff abtauchte.
    Dieses E-Book wurde von "Lehmanns Media GmbH" generiert. ©2012

9. KAPITEL
    T essa nahm den Wedding-Ring-Quilt mit in ihr Zimmer und breitete ihn über das Fußende ihres Bettes. Es war das Erste, was sie sah, als sie am nächsten Morgen die Augen aufschlug. Diese Nacht hatte sie keine Albträume, das war schon ungewöhnlich genug. Sie war nicht von quietschenden Bremsen aufgewacht oder von weinenden Menschen, die sie nicht kannte. Sie war aufgewacht mit dem Quilt, der säuberlich gefaltet war, so, wie sie es noch aus ihrer Kindheit kannte.
    An diesem Morgen war eine Entscheidung in ihrem Leben leicht getroffen: Sie würde nicht mit ansehen, wie der Quilt sich weiter auflöste, und genauso wenig würde sie ihn einfach entsorgen. Das war ihr letzte Nacht klar geworden, als ihre Großmutter von ihrer eigenen Mutter und den anderen Frauen erzählt hatte, die ihr die Stoffe geschenkt hatten. Tessas Eindruck von Helen Stoneburner Henry hatte sich mit dieser Geschichte verändert. Das, was von der verwitterten Steppdecke noch übrig geblieben war, war ihr dadurch noch mehr ans Herz gewachsen.
    Es klopfte an der Tür; ihre Mutter öffnete sie einen Spalt und lugte herein. „Bist du wach?“
    Tessa setzte sich auf und reckte sich. „Du bist ja schon früh auf.“
    „Ich konnte nicht mehr schlafen.“ Nancy kam herüber und setzte sich auf den Rand von Tessas Matratze, so wie sie es früher gemacht hatte, als Tessa noch ein kleines Mädchen war. Damals hatten die frühmorgendlichen Besuche den Zweck, Tessa in die Feinheiten der Gesellschaft einzuweisen oder ihren Tag detailliert durchzuorganisieren. Jedenfalls hatte Tessa damals das Gefühl gehabt. Heute Morgen sah Nancy einfach nur besorgt aus.
    Da es Sonntag war, stellte Tessa die obligatorische Frage: „Gehst du heute in die Kirche?“
    „Nicht, wenn deine Großmutter nicht darauf besteht, und das ist unwahrscheinlich. Ich glaube nicht, dass sie noch häufig in den Gottesdienst geht.“
    „Was ist los?“ Tessa sah sie an. Dann griff sie auf den Nachttisch und blinzelte auf den Wecker. „Es ist später, als ich gedacht hätte. Zum Joggen wird es zu heiß, wenn ich nicht sofort aufstehe und losgehe.“
    Nancy erhob sich. „Dann lass dich nicht aufhalten.“
    Tessa streckte den Arm aus und hielt ihre Mutter fest, bevor sie wieder verschwinden konnte. „Bleib hier. Ich habe mich nur gewundert, dass ich so lange geschlafen habe.“
    Nancy setzte sich wieder auf die Bettkante. „Ich bin schon seit einer Stunde wach.“
    „Warum?“
    Wenn Nancy schon seit einer Stunde wach war, dann hatte sie die Zeit noch nicht dazu genutzt, ihr tägliches Pflegeprogramm zu absolvieren. Sie hatte sich die Haare gekämmt, aber nicht so sorgfältig, wie es sonst ihre Art war. Sie trug immer noch ihren Bademantel und hatte keine Spur Make-up im Gesicht. Es war selten, dass Tessa ihre Mutter so sah, und sie war überrascht, wie jung sie noch aussah, auch ohne die ganzen teuren künstlichen Farbschichten. Sie sah jung aus und noch verletzlicher als sonst.
    „Ich mache mir Sorgen um deine Großmutter.“
    „Warum?“
    „Machst du dir keine Sorgen?“
    Tessa fühlte sich wie ein Kandidat in einer morgendlichen Quiz-Sendung. Sie war nicht wach genug, um die zahllosen maritimen Lebensformen im Great Barrier Riff zu nennen oder die letzten Gouverneure von Rhode Island. Geschweige denn war sie nur annähernd ausgeschlafen genug,um die Psyche ihrer Mutter zu

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